Erlebnisse und Beobachtungen auf dem Spissenweg
04.11.2022 FrutigenFREIZEIT «Frutigländer»-Mitarbeiterin Katharina Wittwer hat letzte Woche in Begleitung den Spissenweg von Adelboden nach Frutigen unter ihre Füsse genommen. Ein Erfahrungsbericht.
Auf dem Wegweiser bei der Post in Adelboden ist die Wanderzeit bis ...
FREIZEIT «Frutigländer»-Mitarbeiterin Katharina Wittwer hat letzte Woche in Begleitung den Spissenweg von Adelboden nach Frutigen unter ihre Füsse genommen. Ein Erfahrungsbericht.
Auf dem Wegweiser bei der Post in Adelboden ist die Wanderzeit bis Frutigen mit sechs Stunden angegeben. Würde man mit dem Bus in den Ausserschwand fahren, verkürzte sich die Wanderzeit um rund 20 Minuten. Statt auf die nächste Verbindung zu warten, starten wir aber gleich hier. In den Morgenstunden hat es aufgehört zu regnen. Noch ist der Himmel bedeckt, Aufhellungen sind im Laufe des Tages zu erwarten.
Vielerorts herrscht Bautätigkeit: Hausund Hofzufahrten werden erneuert, Leitungen in den Boden verlegt, Unterstände und Garagen errichtet und alte Häuser durch neue ersetzt. Entlang der Strecke stehen mehrere kleine Selbstbedienungs-Hoflädeli. Angeboten werden verschiedene Käsesorten, allerlei «Güetzeni» (wohl von einer gelernten Konditorin hergestellt) und Geschenke oder Mini-Wohnaccessoires. Da wir unsere Verpflegung in einer Bäckerei besorgt haben, widerstehen wir den verlockenden Angeboten.
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Auf einem Plakätli bei der Brücke über den Tschentenbach lesen wir, Strasse und Wanderweg im Egernschwand seien montags bis freitags während der Bürozeiten gesperrt. «Passieren können wir diese Stelle bestimmt», sagen wir uns – und so ist es auch. Das Strässchen wird wohl auf einem kurzen Stück erneuert, doch weder Arbeiter noch ein Bagger sind vor Ort (Bild 1 oben). Nach einer Stunde auf Hartbelag queren wir auf einem glitschigen Pfad das Tobel des Otterebachs und gelangen nach Rinderwald, der ersten Spisse (Bild 2 unten).
Die Wolkendecke lockert sich und wir kommen ins Schwitzen. Landwirte sind wenige zu sehen, an den Hängen weidet Jungvieh. «Die Milchkühe werden im Stall gefüttert», erzählt uns ein Altbauer, welcher den Elektrozaun einrollt. Er habe das Heimetli seinem Sohn übergeben, und dieser arbeite 100 Prozent auswärts.
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Das Queren des Sack- und des Ladholzgrabens ist anspruchsvoll und erfordert Trittsicherheit. Die Pfade sind schmal, glitschig und an überhängenden Stellen mit Seilen versehen (Bild 3 unten). Pneuspuren am Boden deuten darauf hin, dass jemand diese Strecke mit dem Bike gefahren ist. Unserer Meinung nach setzt das eine gewissen Unverfrorenheit voraus.
In dieser Gegend wurde bis 1977 Schiefer abgebaut. Informationstafeln, eine Schieferfräse und Werkzeuge berichten von diesem gefährlichen und ungesunden Nebenerwerb. Besser gefallen mir die kleinen, liebevoll gestalteten Schilder mit bunter Aufschrift, die hier ebenfalls zu sehen sind. In den letzten Jahren haben die SchülerInnen der Inneren Gebiete (Rinderwald, Elsigbach und Ried) den Weg verschönert. Ab und zu entdeckt man kleine, selbstgeschnitzte Bauernhoftiere, erfährt die Namen der zu querenden Gräben oder kann lesen, bis wann die Schulhäuser Ladholz, Linter und Chratzere (Bild 4 oben) betrieben wurden. Auch eine Klangstelle, an der man verschiedene Glocken zum Klingen bringen kann, wurde mit einfachen Mitteln eingerichtet. Um die Ruhe nicht zu stören, verzichten wir aufs Ausprobieren.
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An Chratzere – immer noch auf über 1300 Metern gelegen – wächst der wahrscheinlich eindrücklichste Wacholderbusch weit und breit (Bild 5 rechts). «So grosse Exemplare sind äusserst selten», stellt mein Partner mit Kenneraugen fest.
Um die Spissen und Gräben namentlich korrekt aufzählen zu können, muss man entweder hier aufgewachsen sein oder sich intensiv mit den geografischen Gegebenheiten vor Ort beschäftigen. Man möge mir verzeihen, falls meine Wiedergabe nicht korrekt ist: Linter, Lintergraben, Chratzere, Chratzeregraben und Gempelen. Hier endlich befinden wir uns unterhalb von 1300 m ü. M. Der Bau einer wintersicheren Verbindung durch die Doppelgalerien Gempelenund Ratelsgraben (beide wurden letztes Jahr von den Schulklassen mit wunderschönen Alpabzugmotiven bemalt (Bild 6 unten) nach Zwüschenbäch war eine langwierige und teure Angelegenheit. Wer hier wohnt, Landwirtschaft betreibt und haupt- oder nebenberuflich zur Arbeit fährt, hat Anrecht auf Erschliessungsstrassen bis zur Haustür. Nach dem Zwüschenbächgraben gelangen wir nach Ried, der letzten Spisse.
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Inzwischen ist der Himmel fast wolkenlos und es ist warm – zu warm für diese Jahreszeit. Auf dem Bänkli beim Schulhaus Ried geniessen wir den Nussgipfel. Frisch gestärkt nehmen wir das letzte Stück unseres Weges in Angriff. Eine steile Abkürzung durch den Wald bis zur Gantenbachbrücke erfordert erneut Konzentration. Statt (wie wahrscheinlich die meisten Spissenwanderer) entlang des Gantenbaches bis zur Engstlige abzusteigen, wählen wir den steilen Weg nach Prasten, wodurch unsere Schuhe noch richtig schmutzig werden (Bild 7 unten). Via Innerbräschgen–Oberfeld erreichen wir das Dorf. Nach 20,5 Kilometern mit insgesamt 400 Metern Auf- und gut 1000 Metern Abstieg gelangen wir nach fünfeinhalb Stunden ans Ziel: den Bahnhof Frutigen.