Jetzt, wo die Tage wieder kühler werden und glücklicherweise immer noch vereinzelte Sonnenstrahlen durch die farbigen Blätter der Bäume dringen, finden vielerorts Erntedankfeste, wohl unte anderem Namen, aber sicher ursprünlich in diesem Sinn Erntedankfeste statt.
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Jetzt, wo die Tage wieder kühler werden und glücklicherweise immer noch vereinzelte Sonnenstrahlen durch die farbigen Blätter der Bäume dringen, finden vielerorts Erntedankfeste, wohl unte anderem Namen, aber sicher ursprünlich in diesem Sinn Erntedankfeste statt.
Es sind Feste, bei denen man sofort an Kürbisse, Maiskolben und Zwiebelzöpfe denkt. Aber ehrlich gesagt: Wer von uns hat dieses Jahr tatsächlich etwas angepflanzt, das über die Fensterbank hinausgeht? Die meisten kauften vielleicht mal ein Stöckchen Basilikum im Supermarkt oder ein paar Stauden Cherry-Tomaten, pflegten sie drei Tage liebevoll und sahen dann hilflos dabei zu, wie die erst hofnungsvoll umsorgten Pflänzchen schneller vertrockneten als jede gute Vorsatzliste im Februar. Trotzdem sitzen wir da und sprechen vom «Ernten».
Aber vielleicht geht es beim Erntedank gar nicht mehr nur um Kartoffeln und Kohlköpfe, sondern darum, das einzusammeln, was wir übers Jahr so ausgesät haben – im übertragenen Sinn. Denn wie heisst es so schön? «Wer freundlich sät, darf Dank ernten.» Wer Nachbars Paket annimmt, erntet ein Lächeln (und manchmal sogar Schokolade). Wer im Büro den letzten Kaffee verschenkt, bevor der Vorrat leer ist, erntet stille Verehrung. Und wer beim Umzug hilft, erntet nicht nur Dank, sondern auch Rückenschmerzen – was ja fast genauso traditionell ist wie der Zwiebelkuchen.
Das Schöne daran: Dank ist eine Ernte, die nicht im Keller verschimmelt. Er muss nicht eingekocht oder eingeweckt werden, sondern hält sich erstaunlich lange frisch – vorausgesetzt, man verteilt ihn grosszügig weiter. Dank funktioniert wie ein magischer Apfelbaum: Je mehr man pflückt, desto mehr wächst nach. Und das Beste: Keiner muss die Gartenarbeit übernehmen. Vielleicht sollten wir also das nächste Erntedankfest weniger mit Kürbissuppe und Kartoffelauflauf feiern und mehr mit ein paar Worten, die man lange geniessen kann. Kalorienfrei, aber nahrhaft fürs Gemüt. Denn wer Dank erntet, hat definitiv die beste Saison hinter sich – auch ohne grünen Daumen.
JACQUELINE RÜESCH
J.RUEESCH@FRUTIGLAENDER.CH