Erst Pferde, später Spezialbusse
30.07.2024 Reichenbach, KientalAnfänglich verkehrten Kutschen auf den holprigen Strassen nach Kiental. Als später probeweise ein Postauto fuhr, musste die Polizei den Fahrer zunächst vor der Wut der Kutscher schützen.
HANS HEIMANN
Vor 125 Jahren verliess erstmals eine ...
Anfänglich verkehrten Kutschen auf den holprigen Strassen nach Kiental. Als später probeweise ein Postauto fuhr, musste die Polizei den Fahrer zunächst vor der Wut der Kutscher schützen.
HANS HEIMANN
Vor 125 Jahren verliess erstmals eine Pferdepostkutsche das Dorf Reichenbach in Richtung Kiental, das man damals noch mit «h» schrieb. Diese verkehrte nur im Juli und August. Pro Tag gab es zwei Kurse in jede Richtung, mit Abfahrt in Reichenbach um 9.15 und 18 Uhr sowie ab Kiental um 6.50 und 18.20 Uhr. Die Fahrzeit für die sechs Kilometer lange Strecke betrug etwa 75 Minuten. Samuel Wittwer, seines Zeichens auch Negotiant (= Kaufmann / Händler), war der wohl erste Kutscher im Kiental. Bereits rund 60 Jahre früher bestand ein Fahrbotendienst von Thun nach Frutigen, der vier Stunden für die Strecke brauchte und Platz für zwei Personen bot.
Mit der Zeit wurde das Angebot zwischen Reichenbach und Kiental ausgebaut, die Kurse wurden nun zwischen dem 15. Juni und dem 15. September bedient. Im Juni und im September verkehrte ein Einspänner mit zwei bis drei Sitzplätzen, im Juli und August ein Zweispänner mit sechs Plätzen. Der Jahreslohn eines Kutschers betrug damals 1200 Franken. Knapp einen Monat nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ab dem 24. August 1914, galt der sogenannte Kriegsfahrplan mit nur noch einem Kurs pro Tag und Richtung. Immerhin fuhr die Kutsche nun erstmals auch im Winter. Erst 1927 wurden wieder zwei Fahrten pro Tag und Richtung angeboten (für 2.10 Franken in der Hoch- und 1.20 Franken in der Nebensaison).
Aufstand gegen den «fremden Fötzel»
Im Sommer 1930 fuhr probeweise ein Autokurs. Es war Karl Geiger senior, Garagenbesitzer aus Adelboden, der den Zuschlag für diese Linie erhielt. Da die Kutscher sich in ihrer Geschäftstätigkeit benachteiligt sahen, drohten sie Geiger, den sie einen «fremden Fötzel» nannten, mit einer Blockade und mit Schlägen. Ein Polizeieinsatz war nötig, damit Geiger am 1. Mai mit seinem Wagen in Reichenbach ungehindert losfahren konnte. Die Kutscher kamen in der übrigen Jahreszeit aber immer noch zu Arbeit, da man weiterhin auf die Pferdepost setzte. «Herr Karl Geiger hat letztes Jahr zur allgemeinen Zufriedenheit den Kurs geführt», schrieb das «Oberländer Tagblatt» im Februar 1931. Später wurde der Kurs zur Sommerzeit bis auf die Griesalp erweitert – und zwar auf der der Alpgenossenschaft gehörenden Bergstrasse, die damit zu Europas steilster Bergpoststrasse wurde.
Weiterbetrieb auf Messers Schneide
Zur Überwindung dieser zum Teil über 28-prozentigen Steigung war ein entsprechendes Fahrzeug erforderlich. Zuerst wurde ein damals nur fürs Kiental entwickelter Bus eingesetzt. Eine Spezialkonstruktion eines Saurer-Frontlenkers brachte die Gäste durch Haarnadelkurven vorbei am Pochten- und Dündenfall und den Schluchten mit dem Hexenkessel zur Griesalp.
In den 1980er-Jahren dachte man an die Aufhebung des Kurses Dorf – Griesalp. Gründe waren das steigende Defizit, das 1982 bei 170 000 Franken lag, und die notwendige Neuanschaffung von Fahrzeugen. Die Alpgenossenschaft bemühte sich, mit den Post-, Telefonund Telegrafenbetrieben (PTT) eine Lösung zu finden. Auch prüfte sie, ob ein Fahrdienst mit Privatfahrzeugen denkbar wäre und ob die Einwohnergemeinde Reichenbach mithelfen würde. Der Entscheid stand auf Messers Schneide, aber schliesslich blieb die PTT-Strecke trotz Defizit erhalten.
Heutige Situation
Einer, der die Strecke bestens kennt, ist Markus Rumpf. Während 14 Jahren fuhr der pensionierte Buschauffeur ganzjährig von Reichenbach nach Kiental. In unregelmässigem Turnus wurde er auch für die Kurse nach Spiez, Aeschi oder Interlaken eingeteilt. Über die Griesalp-Strecke, die er im Sommer oft fuhr, verfasste er ein kleines Büchlein, das diesem Text zugrundeliegt. «Es gibt Fahrgäste, die zur Arbeit pendeln, aber auch Kindergärtler und Schulkinder, die regelmässig mit dem Postauto fahren», so Rumpf. Während der Sommermonate kommen dann die vielen Bergwanderer und Naturliebhaber als zusätzliche Fahrgäste dazu. «In dieser anspruchsvollen Zeit verkehren zwei Spezialbusse (Mercedes Vario) direkt nach Griesalp. Zusätzlich dienen zwei Mercedes Citaro K als Zubringer bis Tschingel. Von dort werden dann die Passagiere von den ‹Varios› abgeholt und zur Griesalp gefahren.» So sind die Postautos in der Lage, pro Kurs rund 240 Personen zu befördern. Diesen Sommer verkehren die Postautos auf der Kiental-Griesalp-Linie seit Mitte Mai bis zum 20. Oktober.
Der überforderte Experte
Jeden Frühling mussten die Fahrer für die aussergewöhnliche Strecke Kiental – Griesalp eine Prüffahrt mit einem Experten von den Post-, Telefon- und Telegrafenbetrieben (PTT) absolvieren. Der Chauffeur Karl Geiger ersuchte die PTT, die Prüffahrt doch aus Spargründen von den langjährigen Fahrern selbst durchführen zu lassen. Doch die PTT beharrten weiter darauf, die Fahrer selbst zu prüfen. Dieses Prozedere wiederholte sich Jahr um Jahr. Als es in Bern wieder Frühling wurde und ein PTT-Experte im Kiental eintraf, war Geiger der Sache überdrüssig. Der Adelbodner forderte den Experten auf, sich doch selbst einmal ans Steuer zu setzen und die steile Strecke zu fahren. Des Experten Fahrweise war nicht gerade vorbildlich und führte zu einem grösseren Blechschaden am Fahrzeug. Geigers Wunsch, seine Chauffeure intern zu prüfen, wurde anschliessend akzeptiert. Seit einigen Jahren machen die Fahrer dies unter sich aus und geben sich gegenseitig Tipps.
HANS HEIMANN