«Es geht nicht nur um den Luchs»
15.08.2025 NaturSTANDPUNKT – WIRKLICH ZU ENDE GEDACHT? – EIN ORIENTIERUNGSGESPRÄCH
Die Ausgangslage
Der Berner Regierungsrat Christoph Ammann hat mit Datum vom 5. August 2025 zum offenen Brief von Nationalrat Thomas Knutti Stellung genommen. ...
STANDPUNKT – WIRKLICH ZU ENDE GEDACHT? – EIN ORIENTIERUNGSGESPRÄCH
Die Ausgangslage
Der Berner Regierungsrat Christoph Ammann hat mit Datum vom 5. August 2025 zum offenen Brief von Nationalrat Thomas Knutti Stellung genommen. Nationalrat Thomas Knutti hatte in einem Schreiben an den Umweltdirektor gefordert, dass ein schadenstiftender Luchs auf der Alp Tschingel im Kandertal sofort abgeschossen werden solle.
Zudem hatte Knutti Vorwürfe an die Adresse der Jagdinspektorin des Kantons Bern dahingehend erhoben, dass die Jagdinspektorin eine Eignung für ihr Amt zumindest in Teilen vermissen liesse. Nun erläuterte Christoph Ammann in einer öffentlichen Stellungnahme, dass ein sofortiger Abschuss des Luchses mit der geltenden Bundesgesetzgebung nicht vereinbar sei.
In seinem ebenfalls veröffentlichten Begleitbrief sagt er aufgrund einer detaillierten Tatbestandsdarstellung wörtlich: «Die Voraussetzungen für einen Abschuss waren somit klar nicht erfüllt.» Dabei weist Ammann gleichzeitig auch die Vorwürfe an die Jagdinspektorin zurück und äussert Unverständnis dafür, dass «gewählte Volksvertreter öffentlichen Druck auf die Verwaltung ausüben mit dem Ziel, geltende Gesetze zu umgehen». Ob dieser Vorwurf an Knutti, er wolle gezielt Gesetze umgehen, allerdings gerechtfertigt ist, ist bis Redaktionsschluss offen.
Es fällt aber auf, dass der Streit – wie es scheint – nicht primär um die Natur, die Viehzüchter oder gar den Luchs (!) ging, sondern um einen bestimmten Politik- und Sprachstil. Und man darf sogar vermuten, dass dies schon eine Art Positionsbestimmung vor den kommenden Wahlen ist. Eine amtliche Entscheidung in der kontrovers diskutierten Frage ist aber zunächst einmal getroffen.
Der «Frutigländer» nähert sich dem Thema jedoch in einer nicht-juristischen Weise, indem er eine politisch erfahrene Stimme zu Wort kommen lässt, die als verantwortungsvolle Amtsträgerin im Kanton Bern als eine vermittelnde, lösungsorientierte Politikerin bekannt ist. Und so ist ein offenes, tiefgehendes Gespräch über die Zukunft des politischen Umgangs mit der Natur zustande gekommen, über das wir im Folgenden berichten.
Katharina Baumann: Eine moderierende Stimme
Von Katharina Baumann, die sich selbst als Brückenbauerin bezeichnet, kann man sagen, dass sie nicht nur eine moderate Stimme, sondern immer auch eine moderierende Stimme im politischen Konzert ist. Die Grossrätin im Kanton Kanton Bern (EDU) ist auch zweite Vize- Grossratspräsidentin des Kantons und Mitglied der Sicherheitskommission SID, und es fällt auf, dass sie ständig nach vorne sieht, dass sie versucht zu verstehen und dass sie in konstruktiver Weise auch die Position des jeweiligen Gegenübers mitformuliert. Katharina Baumann war lange Zeit Unternehmerin und ist heute als Lehrkraft im Bildungsbereich tätig. Der Familienbetrieb, dem sie früher in der Geschäftsleitung angehörte, wird mittlerweile von ihren Söhnen geführt. Ihre Handschrift ist es, nicht nur Brücken zu bauen, sondern dass sie versucht, Brücken zu überschreiten: Sie sucht nicht den schlechten Kompromiss «auf halbem Weg», sondern sie scheint – so der Eindruck in dem Gespräch mit ihr – stets auf dem Weg zu sein, neues Terrain zu erschliessen und neue Lösungen möglich zu machen. Mag sein, dass sie eine stille Visionärin ist.
Sie vertritt wohl eine kleine Partei (EDU), ist aber – wie man hört und liest – allseits und parteiübergreifend geschätzt. Sie kennt auch, wie sie sagt, beiden kontrovers agierenden Stimmführer in dieser Sache: Nationalrat Thomas Knutti und Regierungsrat Christoph Ammann. Und so muss man ihrer Einschätzung des Vorgangs einiges an Gewicht beimessen. Sie hält die aktuelle Diskussion um den «Tschingel-Luchs» für ein Vorgeplänkel im Hinblick auf die kommenden kantonalen Wahlen am 29. März 2026. Und die Emotionalität beider Seiten sei «nicht ganz zu Ende gedacht». Doch diese Sache zu Ende zu denken, erfordert einige Anstrengung.
Wir haben gemeinsam genau diesen Versuch unternommen, um in einem ausführlichen Gespräch den Dingen einen neuen Ansatz zu verleihen. Einige Aspekt sind Katharina Baumann dabei wichtig:
Die Sicht der Bauern einbringen.
Man müsse, so Baumann, «Verständnis für die Bauern» !nden: Sie bleiben im «Gestrüpp» gegebenenfalls. in legitim erscheinenden amtlichen Regelungen hängen, können sich aber gegenüber dem Wild-Tier im Zweifel kaum wehren. Jede Eigenmächtigkeit (zum Beispiel nicht genehmigter Abschuss) wäre strafbar – und käme die Viehzüchter teuer zu stehen.
Sehr viele Bauern betrieben aber Landwirtschaft und Viehzucht längst nicht nur zum Broterwerb. Der Aspekt sei wichtig, aber oft stünden Dinge im Vordergrund wie persönlicher Lebensstil («Lebensform»), Naturliebe und Heimatgefühl. Mit einer blossen Entschädigung sei ihnen deshalb nicht Genüge getan. Denn vielen Bauern geht es nicht nur um das Geld-Verdienen alleine. Baumann kann das sagen, da sie selbst aus ländlicher Umgebung im Emmental stammt.
Getrübte Sicht der Natur: Gesamtgesellschaftliches Umlernen möglich?
Aber das Problem für die Schweiz als Ganzes liege noch tiefer, betont sie. Viele Schweizerinnen und Schweizer, die nicht auf dem Land leben, haben noch «nie einen Tag mit einem Tier verbracht». Und viele halten schon den Stadtpark für «Natur». Ist Natur also nur noch «unser Spielplatz aus einer TV-Spotwerbung», fragen wir nach? Die Frage sei, so die Antwort: «Was will ich?», was wollen wir als Gesellschaft. Viel zu oft werde in der Politik gefragt: «Was wollen wir nicht?», statt sich wirklich in der Tiefe mit den Sachthemen auseinanderzusetzen, oder Ziele positiv zu formulieren. In dem vorliegenden Fall geht es sowohl um Wildtiere, die wir sehr nahe an unsere sowieso schon engen Lebensräume herangelassen haben. Es geht auch um unsere Nutztiere und das Zusammenleben mit ihnen.
Wir hätten, so Baumann, völlig aus dem Blick verloren, dass grosse Raubtiere wie der Luchs und der Wolf auch gefährlich werden können. Sie sind keine Spiel-Tiere. So haben die Luchse zwar ihr Beuteschema (zu dem der erwachsene Mensch nicht gehört), aber ungeschützte oder eben in besonderen Situationen nicht schützbare Weidetiere, gehören bis zu einer gewissen Grösse zu deren Beutetieren dazu. «Könnte der in Frage stehende Luchs einfach krank gewesen sein, dass er sich untypisch verhält?», fragen wir nach. Baumann hält etwas anderes als für viel wahrscheinlicher: «Er – der Luchs – hatte es einfach bequem. Wie bei uns Menschen: Wir essen zu oft Fast-Food. Es ist so einfach. … Der Luchs hat sich eventuell einfach bedient, wie im Schnellrestaurant. «Und es stimmt: unberührte Natur und Umwelt gibt es schon lange nicht mehr. Wir, als Menschen, haben überall und allumfassend eingegriffen. Genau diese Verantwortung müssen wir übernehmen. Wir müssen uns mit der Natur immer wieder neu auseinandersetzen», sagt Baumann, ökologisch, politisch, und touristisch.
Und wenn sich die Umfeld-Parameter – und dazu gehört eventuell auch das Verhalten der Wildtiere selbst – änderten, dann müssten wir unsere Politik anpassen, damit möglichst wenig Schaden entsteht.
Ist eine andere Politik nötig?
Ob wir eine andere Politik bräuchten? Nein, sagt Baumann, wir müssen Politik stattdessen anders machen: Weniger Konfrontation und «ich habe immer recht», aber stattdessen ein viel tieferes Sich-Befassen mit den Dingen, gegenüber den Menschen und den Verhältnissen. «Stadt-Füchse» zum Beispiel bringen noch immer grosse Risiken für uns Menschen mit, zum Beispiel Tollwut und Fuchsbandwürmer. Was die Natur angehe, so müssten wir ein ganz anderes Verhältnis zu ihr entwickeln, sie nicht nur nutzen und «regeln» wollen, sondern ihr auch so gerecht zu werden versuchen, dass sie auch uns gerecht werden kann. Das gehe aber nur praktisch: Natur erleben, nicht nur als «Spiel», sondern kundig und verantwortungsvoll. Natur gestalten, auch bäuerlich und in den Gärten. Natur wahrnehmen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Die sport- und naturbegeisterte Katharina Baumann ist selbst Beispiel dessen, was sie sagt: In ihrer «gar nicht so freien Zeit» beschäftigt sie sich mit «Natur und Bewegung, Kochen, Biken und Jugendarbeit» (so ihre Website). Und lange hat sie sich im Verein „Sonnensegel“ (https://solarsail.ch/)füreine ökologische Energiegewinnung eingesetzt. Eine Empfehlung für die beiden Kontrahenten in dem Streit um den Tschingel-Luchs spricht Katharina Baumann nicht aus. Es scheint aber empfehlenswert zu sein, dass sich beide Kontrahenten einmal persönlich mit ihr unterhalten. «Man kennt sich doch», sagt sie am Ende. MARTIN NATTERER