Explosiv und emotional
18.11.2022 KulturMorgen Samstag eröffnet im Alpinen Museum in Bern die Ausstellung «Heimat – Auf Spurensuche in Mitholz». An deren Entstehung wirkten BürgerInnen aus Mitholz und dem Frutigland mit Ideen, persönlichen Gegenständen und Erinnerungen mit.
...Morgen Samstag eröffnet im Alpinen Museum in Bern die Ausstellung «Heimat – Auf Spurensuche in Mitholz». An deren Entstehung wirkten BürgerInnen aus Mitholz und dem Frutigland mit Ideen, persönlichen Gegenständen und Erinnerungen mit.
PETER SCHIBLI
Am 19. Dezember jährt sich die Explosionskatastrophe von Mitholz zum 75. Mal. Seit Februar 2020 wissen die BewohnerInnen, dass manche von ihnen ihr Heimatdorf für zehn Jahre verlassen müssen. So lange braucht der Bund für die Räumung des nicht explodierten Sprengstoffs im ehemaligen Munitionsdepot unter der «Fluh». Was Heimat bedeutet, zeigt sich meistens erst dann, wenn man diese verliert. Das Alpine Museum der Schweiz hat sich deshalb vor gut zwei Jahren entschieden, in einem «Community-Projekt» eine Ausstellung zu kreieren, welche die Themen Heimat, Erinnerung, Risiko und Verantwortung reflektiert.
Die Konzeptarbeiten verliefen in mehreren Phasen. 2020 wurde durch Vermittlung der Gemeindeverwaltung eine Projektgruppe mit sieben Personen gebildet, die im Dorf aufgewachsen sind. Ab Dezember 2020 diskutierte die Gruppe an fünf Sitzungen über Erinnerungen, Gefühle und Erwartungen an die Ausstellung. An einem Medientermin sagte die Mitholzerin Dory Schmid am vergangene Dienstag, dass es für sie wichtig war, bei der Konzeption der Ausstellung mitzuwirken. Den vom Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) verordneten Wegzug aus Mitholz sieht sie als «Opfer für die nächste Generation». Für ihre Grosskinder hoffe sie auf ein «sauberes Mitholz». Sie selbst werde nicht mehr dahin zurückziehen, aber ihre Grosskinder möchte sie dann schon gerne im Heimatdorf besuchen, erklärte sie.
Annelies Grossen, deren Elternhaus 1947 bei der Explosion komplett zerstört worden war, lebt heute in Frutigen. Sie berichtete am Medientermin über vier «Sammeltage», an denen sie teilnahm. Gemeinsam mit anderen Talbewohner-Innen sammelte sie in den vergangenen Monaten in Mitholz Steine, Pflanzen, Farben und Töne. Dabei habe sie ihren Ort aus einer neuen Perspektive kennengelernt. Ziel dieser Konzeptionsphase sei es gewesen, herauszufinden, «was Mitholz mit uns macht», erzählte die Frutigländerin den Medienvertretern. Insgesamt waren laut der Kuratorin Barbara Keller rund 45 Personen aus der Region an den Vorbereitungsarbeiten beteiligt.
Sinnliche Erlebnisse in mehreren Räumen
Am Anfang der Ausstellung steht ein Modell des Dorfs Mitholz mit nachgebauten Häusern, Strassen, der Eisenbahnlinie, Felsen und Wäldern. Die Fluh mit dem Schuttkegel ist deutlich erkennbar. Von Trümmern, Felsbrocken, zersplittertem Holz und Gegenständen aus dem Jahr 1947 erzählt der zweite Raum. Hier werden die Folgen der Explosion visuell erlebbar. Ein Feldstecher, ein Schuh, eine Blechbüchse, eine Bibel liegen zwischen den Trümmern. Der Medienberichterstattung und parlamentarischen Aufarbeitung ist der dritte Raum gewidmet, bevor man in einem weissen Tunnel Details über das vom Sprengstoff ausgehende Risiko erfährt. Komplex ist eine Animation mit acht mehrstufigen Räumungsvarianten, die vom VBS ausgearbeitet wurden.
Sinnlich unter die Haut geht eine begehbare Musikinstallation des «Abschieds-Chors». Speziell für die Ausstellung hat die Musikerin Kathrin Künzi das Lied «Läb wohl Mitholz» komponiert und mit einem Chor aus Projektbeteiligten und Freiwilligen aufgenommen. Im letzten Raum, dem Sitzungszimmer der «Expertengruppe Mitholz», liegen Pläne, Berichte und weitere Dokumente auf einem langen Tisch. In den Unterlagen blättern ist ausdrücklich erlaubt. Die Infotafel an der Wand mit den Jahrzahlen 2022– 2040 ist noch weiss. Hier sollen in den kommenden Monaten und Jahren die weiteren Projektschritte den Fortschritt der Räumung dokumentieren.
Laut Beat Hächler, Direktor des Alpinen Museums, ist die Mitholz-Ausstellung Teil der Neuausrichtung seines Hauses. Ganz bewusst wolle man nicht nur Hüterin vergangenen Erbes sein, sondern die Gegenwart abbilden und die Zukunft mitgestalten, erläuterte er vor den anwesenden Medien. Die Ausstellung baue auf Dialog, Diskurs, Abwägen sowie den Einbezug der betroffenen Bevölkerung. Mit diesem Ansatz nehme das Museum den Geist der neuen «Kulturbotschaft des Bundes 2025–2028» voraus und hoffe, dass die finanzielle Förderung durch die öffentliche Hand fortgesetzt werde.
«Mitholz ist überall»
In einer Begleitpublikation zur Ausstellung unter dem Titel «Über Heimat nachdenken» kommen fünf Autorinnen und Autoren zu Wort: David Hesse schreibt über die Risikogesellschaft heute, Jon Mathieu über die Herausforderungen der Berggebiete, Eveline Althaus über unsere Häuser, Mit-Herausgeber Daniel Di Falco über den Glauben an die Berge und Fabienne Meyer über das Erinnern und das Vergessen. Der Fotograf Christian Schwager liefert Illustrationen zu getarnten Militäranlagen. Und Hans Rudolf Schneider, Redaktor beim «Frutigländer», steuert eine aufschlussreiche Chronologie der Ereignisse vor und nach der Explosion bei. Die Publikation vermittelt die Botschaft: «Mitholz ist überall».
PS
Die Ausstellung im Alpinen Museum ist bis zum 30. Juni 2024 zu sehen. Die Begleitpublikation kann im Museumsshop für 10 Franken gekauft werden.