Friedefürst und Störenfried

  23.12.2022 Gesellschaft

ESSAY Der Weihnachts-Jesus ist uns der liebste: Er liegt still in der Krippe, sieht herzig aus und gibt erst noch eine schöne Deko ab. Doch ein Blick ins Neue Testament zeigt: Es gibt noch einen ganz anderen Jesus – radikal, wütend, manchmal unerbittlich. Auch wenn es dieser Tage gern vergessen geht: Der eine ist nicht ohne den anderen zu haben.

WWJD – diese Abkürzung kam vor gut 20 Jahren in den USA auf. Meist war sie auf Armbändchen gestickt, manchmal sah man sie auf T-Shirts. Es dauerte nicht lange und die vier Buchstaben verbreiteten sich auch in Europa. Aus den Medien erfuhr man, was es damit auf sich hat. WWJD: das stand für «What would Jesus do?» (Was würde Jesus tun?).

Was würde Jesus tun? Diese Frage hatte ein Jugendpastor in den USA den jungen Mitgliedern seiner Gemeinde gestellt. Er liess sie kleine Anstecker mit den genannten vier Buchstaben basteln. Bei jeder Entscheidung sollten sich die Jugendlichen diese Frage stellen: Was würde Jesus jetzt tun? Wie würde er entscheiden, was würde er sagen?

Aus dem kleinen Experiment entstand binnen weniger Jahre eine weltweite Bewegung, die bis heute anhält. Wer möchte, kann heute allerlei Utensilien mit dem WWJD-Aufdruck kaufen, vom Armband über die Mütze bis hin zum Schlüsselanhänger.

***

Der Erfolg der WWJD-Bewegung beruht auf einem scheinbar simplen Konzept: Als Christ oder Christin musst du dich nur fragen, wie Jesus zu einer Sache stehen würde – schon weisst du, wie du dich selbst verhalten solltest. Das Problem ist nur: Wie sich Jesus verhalten würde (oder verhalten hätte), ist gar nicht so leicht zu beantworten. Denn die prägende Figur des Christentums existiert in ganz verschiedenen Gestalten.

Jetzt, zu Weihnachten, ist sozusagen der Kitsch-Jesus angesagt. Als Kindlein liegt er in der Krippe, darüber stahlt der Stern und die Englein singen. Wenn es überhaupt noch um religiöse Inhalte geht, dann ist viel von Liebe und Frieden die Rede. Kein Wunder, dass Weihnachten das «erfolgreichste» Fest der Christenheit ist: Dieser herzige Jesus im Stall von Bethlehem tut niemandem weh. Er kritisiert nicht, er verlangt nichts, er ist einfach da.

Wer in den Evangelien weiterblättert, lernt den mildtätigen Jesus kennen, den Menschenfreund, der ein grosses Herz hat und stets das Gute will. Der heilt, Nächstenliebe predigt und zur Vergebung aufruft.

***

Aber es gibt eben auch den anderen Jesus: einen zornigen, radikalen Mann, der sich mit vielen – vielleicht sogar mit den meisten – anlegte. Den religiösen Eliten seiner Zeit las er die Leviten und beschimpfte sie als Heuchler. Leute, die grossen Wert auf Besitz und Reichtum legten, sah er ausgesprochen kritisch – so sehr, dass er einmal im Tempel randalierte, weil ihn die Verkäufer und Geldwechsler aufregten, die dort ihre Geschäfte machten. Glaubt man dem Evangelisten Johannes, kommt dabei sogar eine Peitsche zum Einsatz. Angesichts solcher Aktionen wird auch die römische Besatzungsmacht ein Auge auf diesen jüdischen Wanderprediger gehabt haben. Die Lage in der Region war angespannt. Verschiedene, oft religiös motivierte Revoluzzer-Gruppen machten den Römern zu schaffen. Weitere Aufrührer konnten sie also nicht gebrauchen. Und was macht Jesus? In dieser ohnehin schon aufgeheizten Situation spricht er davon, er werde ein neues Reich errichten, und nicht immer tönt er dabei gewaltlos. «Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert», zitieren ihn die Evangelien. Einmal fordert Jesus seine Anhänger sogar auf, sich selbst Waffen zu besorgen: «Wer aber kein Geld hat, soll seinen Mantel verkaufen und sich dafür ein Schwert kaufen», heisst es im Lukasevangelium. Einige scheinen dem Aufruf gefolgt zu sein. Als Jesus später von den Römern gefangen genommen wird, tragen seine Jünger offenbar tatsächlich Waffen.

***

Friedefürst – so wird Jesus gern in Weihnachtspredigten genannt. Für viele seiner Zeitgenossen dürfte der Mann aus Nazareth wohl eher eine echte Nervensäge gewesen sein, ein Störenfried, der ständig provozierte, der gegen Konventionen verstiess und alles Mögliche in Frage stellte. Zumindest Römer, Priester und Schriftgelehrte werden von dem heile-Welt-Kindlein aus der Weihnachtsgeschichte wenig mitgekommen haben.

Was würde Jesus tun? Wer sich diese Frage stellt, kann offenbar zu ganz verschiedenen Antworten kommen. Und welche Jesus-Version die «richtige» ist, beschäftigt nicht nur junge Menschen auf der Suche nach einem Vorbild, sondern immer wieder auch die Schweizer Politik.

Schon mehr als einmal lagen führende PolitikerInnen wie Nathalie Rickli, Gerhard Pfister und Claudio Zanetti mit ihrer Kirche über Kreuz. Der Streitpunkt war immer derselbe: Kirchenvertreter hatten sich zu politischen Themen geäussert und dabei eine andere Meinung vertreten als die erzürnten Politikvertreter. Hergeleitet hatten die Kirchenleute die Positionen aus ihrem Glauben, also letztlich aus der Frage: Was würde Jesus tun?

Zuletzt gerieten Kirche und Politik auch im Kanton Bern aneinander. Vor allem im städtischen Raum engagierten sich Kirchgemeinden offen für die Konzernverantwortungsinitiative, an manchen Kirchtürmen waren sogar grosse «JA!»-Banner angebracht worden. Auf dem Höhepunkt des Abstimmungskampfes veröffentlichten 50 bernische GrossrätInnen einen offenen Brief, in dem sie die «einseitige Abstimmungspropaganda der Kirchen» scharf kritisierten. Jungfreisinnige unter anderem aus dem Kanton Bern reichten beim Bundesgericht eine Stimmrechtsbeschwerde ein. Die Kirchen seien grundsätzlich zur politischen Neutralität verpflichtet.

***

Auf der einen Seite die Kirche, auf der anderen Seite die (meist bürgerlichen) Politiker: Es ist interessant, wie die beiden Lager ihre Standpunkte begründeten. Die Kirchenvertreter argumentierten gesinnungsethisch, aus ihrem Glauben heraus. Sie waren überzeugt, dass sich Jesus in die Politik eingemischt hätte, und sie meinten zu wissen, auf welche Seite er sich jeweils gestellt hätte.

Die Politik argumentierte dagegen eher verfahrenstechnisch und juristisch. Das Engagement für die Konzernverantwortungsinitiative sei nicht demokratisch legitimiert gewesen, letztlich verstosse es sogar gegen die Bundesverfassung, in der die freie Willensbildung garantiert sei.

Die Stossrichtung ist klar: Die Kirche solle sich gefälligst aus der Politik heraushalten und sich besser ihrem Kerngeschäft widmen – was immer das sei. Der offene Brief der 50 GrossrätInnen warnt am Ende sogar vor finanziellen Konsequenzen, sollte es eine weitere kirchliche Einmischung geben. Die Rechtslage, nach der Unternehmen im Kanton Bern Kirchensteuern zahlen müssen, sei nicht in Stein gemeisselt. Man kann den Hinweis als politische Realität bezeichnen – oder als schlecht kaschierte Drohung.

***

Sollen, dürfen, müssen sich die Kirchen in die Politik einmischen? Und wenn ja, auf welcher Grundlage eigentlich? Die Justiz hat sich vorerst um eine Antwort herumgedrückt. Nachdem die Konzernverantwortungsinitiative abgelehnt wurde, schrieb das Bundesgericht den Fall als gegenstandslos ab; das öffentliche Interesse an einer Klärung sei nicht mehr vorhanden.

Vorerst mag das so sein. Doch es werden andere politische Debatten kommen, und irgendwann werden sich die Kirchen in einem Abstimmungskampf erneut zu Wort melden. Dann wird es wieder heissen: Was hätte Jesus getan, auf welcher Seite hätte er gestanden?

Die Frage stellt sich nicht allein für PfarrerInnen oder die Kirchenleitung. Und sie wird nicht erst dann relevant, wenn wieder einmal über ein «passendes» politisches Thema abgestimmt wird. Gerade an Weihnachten kann sich jeder überlegen, was er in diesem Kind in der Krippe sieht. Einen hübschen Deko-Artikel? Einen radikalen Weltverbesserer? Ein Kulturgut? Einen Gutmenschen mit ein paar netten Ideen? Einen politischen Aufrührer? Gottes Sohn?

Man sieht, es steht einiges zur Auswahl, und die Entscheidung, welcher Jesus-Version man den Vorzug gibt (und warum), kann ebenso interessant wie schwierig sein. Aber so ist das eben: Wer seinen Jesus ernst nimmt, dem ist er Friedefürst und Störenfried gleichermassen.

MARK POLLMEIER


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote