«Früher verabscheute ich winterliche Temperaturen und kalte Füsse»
29.09.2023 PorträtRenato Kallen entdeckte seine Freude am und sein Talent im Skifahren erst spät. Inzwischen kurvt er wettkampfmässig um Slalom- und Riesenslalomstangen. Um einmal an Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen starten zu können, investiert er seine ganze ...
Renato Kallen entdeckte seine Freude am und sein Talent im Skifahren erst spät. Inzwischen kurvt er wettkampfmässig um Slalom- und Riesenslalomstangen. Um einmal an Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen starten zu können, investiert er seine ganze Freizeit.
KATHARINA WITTWER
«Als Bub hätte ich nie gedacht, dass ich einmal Rennen fahren würde, denn Skifahren gehörte damals keineswegs zu meinen Lieblingsbeschäftigungen», gesteht Renato Kallen. «Meine brasilianischen Gene verabscheuten nämlich winterliche Temperaturen und kalte Füsse, eingeengt in steifen Schuhen. Unfreiwillig im Schnee zu landen (das passierte mir oft) tat erst noch weh!»
Nach Abschluss seiner Lehre zum Landschaftsgärtner arbeitete der heute 36-Jährige in verschiedenen Gartenbaubetrieben und lernte in einem Heimberger Baumarkt Grundsätzliches über Einkauf, Kalkulation und Personalführung – also vieles, was ihm dereinst als Geschäftsinhaber zugutekommen sollte. Als vor zwölf Jahren ein langjähriger Frutiger Gartenpfleger altershalber aufhörte, ergriff Kallen kurzentschlossen die Chance und machte sich selbstständig. «Ich hatte rasch dermassen viele Aufträge, dass ich personell aufstocken musste. In den ‹besten Zeiten› waren wir zu fünft – plus ein Lernender». Im Moment ist er allein, hofft jedoch, kommenden Frühling trotz Fachkräftemangel Verstärkung zu finden.
Unterschlupf bei den Exoten
Der gebürtige Brasilianer hatte die 30 bereits überschritten, als ihn ein Freund überredete, mit ihm Skifahren zu gehen. «Völlig unerwartet machte mir die Kälte nichts mehr aus und ich fand Gefallen am Runterflitzen auf Pisten.» Es sollte noch besser kommen: Als ihm sein Freund die Rennskier aus seiner BOSV-Zeit zum Ausprobieren lieh, zog es ihm den Ärmel rein. «Ich fuhr Kurven fast wie ein Profi und entdeckte mein Talent! Personen aus meinem Umfeld ermutigten mich, es irgendwie hinzukriegen, Rennen zu fahren.» Normalerweise beginnt eine Ski-Karriere in der JO. Wer Biss hat, kann es bis in den Weltcup schaffen. Für Spätberufene ist dieser Weg nicht vorgesehen. Kallen liess jedoch nicht locker. Im Internet stiess er auf die Ski-Exoten. «Ausserhalb der grossen Skinationen gibt es überraschend viele solcher Teams.» Mitglieder seien einerseits Athleten, die mangels hinreichender Leistung aus den nationalen Kadern gefallen sind. Andererseits seien es Personen, die in ihrer Jugend in ihren Heimatländern keine Möglichkeit zum Skifahren hatten, später aber über die nötigen Mittel verfügten, um an Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen teilzunehmen.
Beim brasilianischen Schneesportverband
Der schweizerisch-brasilianische Doppelbürger fand schliesslich Aufnahme beim brasilianischen Schneesportverband CBDN und darf deshalb an FIS-Rennen teilnehmen. Gleichzeitig verfügt er über eine Lizenz bei Swiss-Ski, die es ihm erlaubt, in der Schweiz an regionalen Rennen zu starten. Um sein sportliches Ziel – die Teilnahme an der WM 2025 in Saalbach (Österreich) oder ein Jahr später an den Olympischen Spielen in Mailand und Cortina – zu erreichen, sammelte er bereits in der letzten Saison fleissig FIS-Punkte und will nun damit weitermachen. «Gemäss Reglement müssen SportlerInnen aus allen Ländern an solchen Anlässen teilnehmen können, sonst wären es keine Weltmeisterschaften beziehungsweise keine Olympischen Spiele», weiss er.
Komplizierte FIS-Punkte-Berechnung
Nach jedem Rennen werden die FIS-Punkte anhand eines komplizierten Verteilschlüssels neu errechnet – genau genommen heruntergerechnet. Für eine WM-Teilnahme darf man höchstens 190 Punkte auf dem persönlichen Konto haben, für Olympische Spiele 160. Alle fangen bei 999 an. «Ich bin aktuell bei etwa 273. Erreiche ich Ende der kommenden Saison mein Zwischenziel von 180, steht einer WM-Teilnahme theoretisch nichts im Weg», so Kallen.
Skifahren, trainieren und sein Material eigenhändig in Schuss halten – Kallens Hobby ist äusserst zeitintensiv. Kraft und Ausdauer trainiert er im Sommer meistens allein, sei es beim Joggen, beim Velofahren, auf dem Vita-Parcours, im Kraftraum oder in der eigenen Wohnung mit Hanteln oder Gymnastikbällen. Ein ehemaliger Coach von Swiss-Ski trainiert auf selbstständiger Basis eine Handvoll Schweizer AthletInnen. Unter dessen Anleitung kurvt auch der Frutiger um Slalom- und Riesenslalomstangen. Die Frage, ob er im Sommer nach Südamerika zum Training fliege, verneint er. «Ich habe zwar einige Sponsoren für Material und Kleidung, aber mein Budget und das Geschäft, das in den Sommermonaten Hochsaison hat, erlauben mir nur Gletschertrainings in Saas-Fee oder Zermatt.»
ZUR PERSON
Renato Kallen wurde 1987 in Brasilien geboren. Seine leiblichen Eltern kennt er nicht. Ein kinderloses Paar aus Frutigen adoptierte ihn vor seinem ersten Geburtstag. Später komplettierte der um vier Jahre jüngere Mario – ebenfalls ein Adoptivkind aus Brasilien – die Familie. Nach der Schule liess sich Renato Kallen zum Landschaftsgärtner ausbilden. Heute ist er mit seinem Geschäft «Kallen Gartenbau» selbstständig. Nach Brasilien kehrte er nur einmal zurück, als ihn die Eltern mitnahmen, um den «Bruder» zu holen. Kallen lebt mit seiner Partnerin in Frutigen.
WI