Gefühltes Wissen
12.11.2024 KolumneWir alle haben Instinkte, die uns helfen zu überleben. Wenn wir beispielsweise Angst empfinden, geht unser Körper in eine Art «Panikmodus», wodurch wir unter anderem viel wachsamer für Geräusche und Bewegungen sind. Besonders in der Tierwelt ist dieses Phänomen ...
Wir alle haben Instinkte, die uns helfen zu überleben. Wenn wir beispielsweise Angst empfinden, geht unser Körper in eine Art «Panikmodus», wodurch wir unter anderem viel wachsamer für Geräusche und Bewegungen sind. Besonders in der Tierwelt ist dieses Phänomen zu beobachten. Nur treffen wir Menschen im Gegensatz zu den meisten Tieren unsere Entscheidungen ja nicht rein instinktiv. Wir verlassen uns vielmehr auf unsere logische Denkweise. Diese hebt uns schliesslich auch von den anderen Lebewesen ab und ist Hauptgrund für den technischen Fortschritt und den wachsenden Reichtum. Mir ist diese Denkweise ebenfalls nicht fremd – im Gegenteil. Ingenieure sind dafür bekannt, dass sie jeden Sachverhalt logisch erklären wollen und sich gerne in ihren Gedanken verlieren. Im Studium lernte ich, mathematische Probleme im imaginären Bereich zu lösen. Die Wissenschaft geht gar so weit, dass sie sich auch schwierigen Fragen wie jener nach der Entstehung des Universums stellt und sie logisch beantworten will.
Neben dem logischen Denken gibt es aber noch weitere Faktoren, die uns bei der Entscheidungsfindung helfen. Im Endeffekt ist es oftmals ein Zusammenspiel aus Erfahrungen und Erinnerungen, die wir im Laufe unseres Lebens gemacht haben. Albert Einstein war der Meinung, die Ratio sei die Dienerin der Intuition. Dies lässt sich auch wissenschaftlich beweisen: Der Teil unseres Gehirns, der für das bewusste Denken zuständig ist (Neokortex), wird von der Amygdala (Mandelkern) im Zwischenhirn durch das Weiterleiten von Empfindungen in seiner Arbeitsweise entscheidend beeinflusst. Berichten des Neurowissenschaftlers António Damásio zufolge konnte ein Patient, der durch eine Gehirn operation die Fähigkeit zu fühlen verloren hatte, plötzlich gar keine Entscheidungen mehr treffen. Gefühls- und Entscheidungsunfähigkeit scheinen also direkt miteinander zu korrelieren.
Der Blick in die Medizin zeigt eindrücklich, dass es ein Zusammenspiel aus Kopf- und Bauchentscheidung braucht. Eine Art gefühltes Wissen, das sehr schnell in unserem Bewusstsein ist, für dessen Gründe wir aber keine Erklärung haben. Diese Erfahrung durfte ich im Laufe der Zeit bereits einige Male machen. Oftmals sind es sogar Entscheidungen, die auf den ersten Blick unlogisch erscheinen, die sich schlussendlich aber als die klügsten erweisen. Ein solches Beispiel ist für mich, bewusst Dinge loszulassen, damit sie sich später fast von selbst lösen. Ein Beispiel: Möchte ich um jeden Preis einen bestimmten materiellen Gegenstand oder eine gesellschaftlich anerkannte Position haben, dann wird mich dies vermutlich komplett einnehmen und ich beginne, mich darüber zu definieren, sodass ich am Boden zerstört bin, wenn ich es / sie nicht bekomme. Gebe ich jedoch dem Gedanken Raum, dass ich etwas doch nicht zwingend benötige, dann setzt das Energie frei und eröffnet neue Möglichkeiten. Das kann ein langwieriger Prozess sein, doch sind es nicht gerade solche Prozesse, die unsere Persönlichkeit weiterbringen?
Nach dem Abschluss meiner Berufsmaturität hängte ich meinen Traumberuf Ingenieur an den Nagel, da ich grosse Schwächen in den Bereichen Mathematik und Physik hatte. Das bewusste Loslassen dieses Traums öffnete mir viele andere Türen und ich konnte enorm wachsen. Dieses Wachstum wiederum half mir später dabei, den alten Traum neu anzugehen. Für mich ist deshalb klar, Loslassen kann Platz schaffen für mehr. In der Vergangenheit ging jemand gar so weit zu sagen, man müsse sein komplettes Leben verlieren, um es gewinnen zu können. Das klingt für mich irgendwie widersprüchlich und doch faszinierend zugleich. Ich denke, es könnte sich deshalb um einen sehr guten Rat handeln…
BENJAMIN HOCHULI
BENI_HOCHULI@GMX.CH