Grosse Ziele, kleine Schritte
11.02.2025 PolitikABSTIMMUNG Der vergangene Sonntag hält zwei Erkenntnisse bereit. Erstens sind Umweltabstimmungen stets ein bisschen verlogen – bis weit ins linke Lager hinein. Zweitens geht die Energiewende insgesamt zu langsam voran.
MARK POLLMEIER
Ökologische ...
ABSTIMMUNG Der vergangene Sonntag hält zwei Erkenntnisse bereit. Erstens sind Umweltabstimmungen stets ein bisschen verlogen – bis weit ins linke Lager hinein. Zweitens geht die Energiewende insgesamt zu langsam voran.
MARK POLLMEIER
Ökologische Anliegen haben stets einen Zielkon!ikt. Sollen sie wirklich etwas bringen, müssen sie wehtun. Das heisst: Sie würden entweder Geld kosten oder mit Komforteinbussen einhergehen. Umgekehrt gilt: Entscheide, nach denen sich niemand bewegen muss, haben sehr wahrscheinlich keine grosse Wirkung. In der Schweizer Politik finden sich Beispiele für beide Fälle.
Im Herbst 2021 votierte die Berner Stimmbevölkerung für die Annahme des Klimaschutz-Artikels in der kantonalen Verfassung. Dieser hält fest, dass der Kanton bis 2050 klimaneutral werden will. Ja, wunderbar! Wer könnte dagegen sein? Bis 2050 ist es noch lange hin, ist niemand persönlich gefordert – da stimmt man doch gerne zu.
Der letzte Sonntag bot zwei gegenteilige Fälle. Die nationale Umweltverantwortungsinitiative forderte, dass die Schweiz nur so viele Ressourcen verbrauchen und Schadstoffe ausstossen darf, wie ihr gemäss Bevölkerungszahl zusteht. Was das bedeutet hätte, lässt eine Zahl erahnen. Je nachdem, wen man fragt, verbraucht die Schweiz heute 2,5- bis 4,4mal so viel, wie ihr eigentlich zusteht. Das bedeutet: Wollte man das Ziel der Initiative umsetzen, wären drastische Einschränkungen nötig gewesen – und zwar bis in zehn Jahren.
Die Konsequenzen mag sich jeder selbst ausmalen: für die Mobilität, die Ernährung, das Wohnen oder den persönlichen Konsum.
Wären diejenigen 30 Prozent, die am Sonntag mit Ja stimmen, dazu bereit gewesen, etwa in der Stadt Bern? Oder stimmten sie nur zu, um ein Zeichen zu setzen, um sozusagen auf der guten Seite zu stehen?
Über 90 Prozent Nein zur Solar-Initiative
Im «Frutigland» war die Bereitschaft, sich auf dieses Experiment einzulassen, noch weniger ausgeprägt als im übrigen Land. Zwar zeigten sich einmal mehr leichte Unterschiede: Wie häufig gab es in Kandersteg und Krattigen etwas mehr Befürworter des umweltpolitischen Anliegens als etwa in Adelboden oder Kandergrund. Aber nirgends erreichten die Ja-Stimmen auch nur die 25-Prozent-Marke.
Die zweite Initiative, die manchem vielleicht wehgetan hätte, stammte ebenfalls von den Jungen Grünen: die kantonale Solar-Initiative. Genau wie die Initiative für Umweltverantwortung wäre sie eigentlich nötig und sinnvoll – jedenfalls dann, wenn man den nötigen Ausstieg aus fossilen Energieträgern ernst nimmt. Weil man aber auch hier persönliche Einbussen befürchten musste, ging das Anliegen unter: kantonsweit lehnten über 70 Prozent der Stimmberechtigten die Vorlage ab, in einzelnen Gemeinden des Frutiglandes lag die Nein-Quote bei über 90 Prozent.
Wer ist hier unbelehrbar?
Die Initianten solcher Vorlagen sollten mittlerweile eigentlich wissen, dass sie an der Urne keine Chance haben. Sobald ein Ja mit höheren Kosten oder Wohlfühl-Einbussen verbunden wäre, verweigern sich die BürgerInnen. Trotzdem starten linke Parteien und Umweltverbände immer wieder neue Versuche. Schon sammeln die Grünen Schweiz Unterschriften für eine nationale Solar-Inititive; die Frist läuft bis Dezember 2025. Sind diese Kräfte unbelehrbar?
Man könnte auch das Gegenteil behaupten: Umbelehrbar ist die grosse Mehrheit, sind all diejenigen, die am Sonntag Nein gesagt haben. Denn eigentlich müsste man den Verbrauch von Rohstoffen ja tatsächlich zurückfahren. Eigentlich wäre es ja sinnvoll, auf jeder brauchbaren Fläche Solarpanels zu installieren. Aber eben: Wenn es dann konkret wird, erlahmt bei den meisten das Umweltbewusstsein.
Bis 2050 soll nicht nur der Kanton Bern, sondern die ganze Schweiz klimaneutral werden – von der Bevölkerung beschlossen. Geht es im bisherigen Tempo weiter, wird es schwierig, dieses Ziel zu erreichen. Parteien, die sich den Klimaschutz auf die Fahne geschrieben haben, tun deshalb gut daran, dieses Thema immer wieder auf die Agenda zu setzen. Zum eine werden damit die (nötigen) Diskussionen geführt. Zum anderen kommt manchmal ein mehrheitsfähiger Kompromiss heraus.
Immerhin besser als gar nichts
Als der Grosse Rat einen Gegenvorschlag zur Solar-Initiative beschloss, wurde dieser von den Initianten des «Originals» als Enttäuschung bezeichnet, als Scherbenhaufen. Am Sonntag stimmten diesem Scherbenhaufen immerhin zwei Drittel der Berner Stimmberechtigten zu. Für Neubauten wird es künftig eine Solarp!icht auf Dach!ächen geben. Auch für öffentliche Parkplätze ab einer gewissen Grösse sind neu Solaranlagen vorgeschrieben. Eigentümer von bestehenden Immobilien müssen sich im Fall einer Sanierung immerhin beraten lassen, ob eine Nachrüstung für sie in Frage kommen könnte. Mit dieser Lösung haben die Initianten zwar ihre Abstimmung verloren, aber immerhin einen Teilerfolg erzielt, einen Erfolg, den es ohne ihren Vorstoss nicht gegeben hätte. Ob solche kleinen Schritte genügen werden, das Land in die Klimaneutralität zu führen, wird die Zukunft zeigen.
Herausforderung für alle politischen Lager
Mit der Umwelt- und Klimapolitik ist niemand so recht zufrieden: Für die einen sind selbst kleine Verpflichtungen schon zu viel, den anderen ist es nie genug. Das richtige Mass zu finden, ist schwierig.
MARK POLLMEIER
Nach Abstimmungen ringen die Parteien um die Deutungshoheit: Was sagt das Ergebnis nun aus? In ihren Analysen kommen PolitikerInnen mitunter zu erstaunlichen Ergebnissen. So zeigte sich SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer zuversichtlich, dass die Bevölkerung hinter weiteren Klimaschutzmassnahmen stehe – angesichts einer krachend verlorenen Umweltverantwortungsinitiative. Für ihren SVP-Kollegen Marcel Dettling war das Gegenteil der Fall. Diese Abstimmungen zeigten doch gerade, dass die Bevölkerung genug habe von derlei Vorstössen. Dettlings Partei hatte noch am Sonntagabend den Austritt aus dem Klimaschutzabkommen von Paris gefordert.
Etwas nüchterner äusserte sich FDP-Präsident Thierry Burkart. Das Volk habe Nein gesagt zu einer Utopie, also zu einer Forderung, die erhebliche ökonomische und soziale Folgen gehabt hätte. Pragmatismus forderte auch Gerhard Pfister ein, der Noch-Präsident der Mitte: Radikale Initiativen, egal aus welchem Lager, seien nicht zielführend. Pfister gab sich zudem überzeugt, dass die reiche und innovative Schweiz ihre Klimaziele ohne Wolhlstandsverluste erreichen könne.
Nicht alle teilen diese Hoffnung. Was, wenn die Zeit knapp wird, wenn der Klimawandel noch grössere Schäden hervorruft als ohnehin schon? Demokratische Regierungen stehen hier vor einem Dilemma. Selbst wenn sie wollten (was längst nicht überall der Fall ist), können sie Umweltmassnahmen nicht einfach über die Köpfe der Bevölkerung hinweg umsetzen. Es braucht letztlich die Einsicht der Bürgerinnen und Bürger, schon deshalb, weil Umweltpolitik immer auch Wirtschafts- und Sozialpolitik ist. Je näher das Datum 2050 rückt, desto heftiger werden die Diskussionen über den richtigen Weg werden – das zeigen die aktuellen Positionen. Sie reichen von «gar nichts mehr tun» bis «ohne Zwang geht es nicht».