«Ich bin das Opfer, nicht der Täter»
19.04.2024 FrutigenJUSTIZ Weil er eine ihm zustehende Überweisung nicht rechtzeitig erhalten hatte, drohte ein Sozialhilfeempfänger aus dem Frutigland dem zuständigen Sozialarbeiter mit Prügel und beschimpfte ihn in einer E-Mail. Das hatte juristische Folgen.
PETER ...
JUSTIZ Weil er eine ihm zustehende Überweisung nicht rechtzeitig erhalten hatte, drohte ein Sozialhilfeempfänger aus dem Frutigland dem zuständigen Sozialarbeiter mit Prügel und beschimpfte ihn in einer E-Mail. Das hatte juristische Folgen.
PETER SCHIBLI
Über vier Jahre lang herrschte dicke Luft zwischen einem Mitarbeiter eines Gemeindesozialamts im Tal und einem seiner Klienten. Der inzwischen 64-jährige Pensionär fühlte sich vom Sozialarbeiter dauerhaft schikaniert und suchte verzweifelt nach Hilfe: beim Chef des Sozialamts sowie bei der Regierungsstatthalterin. Der Konflikt eskalierte, als der Angestellte der Gemeinde dem Mann rechtmässig zustehende Zahlungen aus der Ergänzungsleistung und eine Rückerstattung für die Haftpflichtversicherung nicht zeitgerecht auszahlte. Ohne das Datum einer Überweisung zu kommunizieren, liess er sich fast drei Monate lang Zeit dafür.
Der frustrierte Sozialhilfeempfänger aber brauchte das Geld dringend. Deshalb schickte er dem Sozialarbeiter im August und Anfang September 2023 zwei unflätige Mails. Darin drohte er seinem Ansprechpartner mit Prügel, falls das Geld nicht innert Kürze auf seinem Konto eintreffe. «Es gibt viele Wege, einem verlogenen schmierigen Perversling eine verdiente Strafe zu verabreichen», schrieb er und bezeichnete den Sozialarbeiter als «Troll». Schliesslich drohte er: «Falls keine Antwort kommt, werde ich beim Regierungsstatthalter eine Beschwerde gegen dich einreichen und offenlegen, dass du einer bist, der seine Arbeitsstelle missbraucht.»
Die Kraftausdrücke und Drohungen hätte er besser unterlassen. Denn am 20. Dezember 2023 flatterte ihm ein Strafbefehl der Regionalen Staatsanwaltschaft Oberland ins Haus. Wegen mehrfacher Nötigung sowie Gewalt und Drohung gegen Beamte verknurrte ihn die Behörde zu einer bedingten Geldstrafe von 1200 Franken (Probezeit 2 Jahre), zu einer unbedingten Übertretungsbusse von 300 Franken sowie zu Gebühren in der Höhe von 500 Franken. Diese in seinen Augen ungerechte Bestrafung liess der Sozialhilfeempfänger nicht auf sich sitzen. Er erhob Einsprache, wodurch der Fall beim Regionalgericht Oberland in Thun landete.
Flucht nach vorne und Gegenklage
Am Mittwoch erschien der erboste Beschuldigte, gut vorbereitet und mit einem Stapel Akten unter dem Arm, vor dem Gericht. Bereitwillig gab er Auskunft zu seiner Person, erläuterte dem Richter seine körperlichen Einschränkungen, seine dramatische finanzielle Situation und ergriff nach einer halben Stunde Verhandlung die Flucht nach vorn: Er sei nicht Täter, sondern Opfer. Der Sozialarbeiter habe ihn genötigt, weshalb er Strafanzeige gegen den Beamten eingereicht habe. Diese sei aber von der regionalen Staatsanwaltschaft zurückgewiesen worden.
In der Sache bestätige der Mann, die beiden E-Mails geschrieben zu haben. Der Sozialarbeiter habe ihn mit seiner Nichtkommunikation und Passivität zur Weissglut getrieben. «Ich habe keinen anderen Ausweg gesehen, als das Kind beim Namen zu nennen. Der Mann hat mich provoziert, schikaniert und willentlich hingehalten.» Auf die Frage des Richters, was er mit den Drohungen konkret gemeint habe, wich der Rentner aus. «Ich habe aus Verzweiflung gehandelt, um meine Existenz gekämpft und für einen Moment den Kopf verloren», antwortete er. Schliesslich beklagte er sich, dass es für solche Fälle keine Beschwerdestelle gebe. Deshalb habe er sich gezwungen gesehen, grobes Geschütz aufzufahren.
Richterliche Hinweise überhört
Geduldig machte der Richter am Ende des Beweisverfahrens eine «unverbindliche Einschätzung» und deutete an, dass für ihn die Rechtslage eigentlich klar sei: Der Tatbestand «Gewalt und Drohung gegen Beamte» sehe er als erfüllt, und ein Rechtfertigungsgrund liege nicht vor. Der Sozialhilfebezüger hätte die rechtlich korrekte Möglichkeit gehabt, vom Sozialamt eine Verfügung zu verlangen, gegen die er beim Regierungsstatthalteramt wegen Rechtsverzögerung und Rechtsverweigerung hätte klagen können. Trotz dieses Hinweises liess sich der Pensionär nicht zu einem Rückzug seiner Einsprache bewegen. «Mit einem Rückzug würde ich mich selbst verleugnen», konstatierte er.
Nach einer kurzen Beratung verkündete der Gerichtspräsident das Urteil: Schuldspruch wegen vollendeter Gewalt und Drohung gegen Beamte, aber Freispruch vom Vorwurf der Nötigung. Gleichzeitig wegen beider Anschuldigungen verurteilt zu werden, sei nicht zulässig. Die Nötigung sei im ersten Anklagepunkt bereits enthalten. Bei der Strafe liess der Richter Milde walten: An der bedingten Geldstrafe von 1200 Franken hielt er fest, aber die unbedingte Übertretungsbusse erliess er dem Beschuldigten. Dafür muss der Mann nun höhere Kosten bezahlen: Zur Gebühr der Staatsanwaltschaft von 500 Franken kommen nun noch Gerichtskosten in der Höhe von 600 Franken hinzu, total also 1100 Franken.
Beim Verlassen des Gerichtssaals meinte der kämpferische Pensionär, der seine Lektion offenbar gelernt hatte: «Nun verlange ich von der Staatsanwaltschaft eine Verfügung, dass sie meine eingereichte Klage gegen den Sozialarbeiter nicht an die Hand nehmen wollen und zurückgewiesen haben. Gegen diese Verfügung werde ich dann beim Regierungsstatthalteramt Beschwerde führen.» Trotz des Urteils scheint der Konflikt zwischen dem wütenden Klienten und dem Sozialamt somit noch lange nicht gelöst.