«Ich habe ab und zu aufgestöhnt»
11.10.2022 InterviewReto Koller hat eine Biografie der Adelbodner Skisport-Legende Hans Pieren verfasst. Hier schildert der Autor, wie es dazu kam, wie er an seine Aufgabe heranging und was ihn am Buchprojekt und dem Porträtierten faszinierte.
«Frutigländer»: Reto Koller, wie sind ...
Reto Koller hat eine Biografie der Adelbodner Skisport-Legende Hans Pieren verfasst. Hier schildert der Autor, wie es dazu kam, wie er an seine Aufgabe heranging und was ihn am Buchprojekt und dem Porträtierten faszinierte.
«Frutigländer»: Reto Koller, wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben?
Ich habe mich nie damit befasst, Buchautor zu werden. Der Auftrag kam Mitte Februar 2022 auf einem Umweg zu mir. Die Besitzerin des Thuner Weber-Verlags, Annette Weber, gelangte an meinen Bruder Toni Koller mit der Idee, Hans Pierens bewegtes Leben zwischen zwei Buchdeckel zu bringen. Toni aber scheute den Aufwand und gab die Anfrage an mich weiter. Ich sagte nach einem Gespräch mit der Verlegerin zu.
Wie reagierte Hans Pieren selbst auf dieses Ansinnen?
Hans hielt sich zu dieser Zeit an den Olympischen Spielen in China auf und war nur per Mail erreichbar. Er sagte mit den Worten «Es ist mir eine Ehre» spontan zu.
Was geschah als Nächstes?
Ich machte mir unverzüglich Gedanken über den Inhalt. Gibt der Pieren Hans genug her, um die vorgegebenen etwa 160 Textseiten zu füllen? Sind der Mensch und sein Leben spannend genug? Die Verlegerin hatte verlangt, dass ich den Inhalt bis Mitte August abliefern sollte – eine äusserst sportliche Vorgabe! Zunächst einmal galt es, für den Verlag ein Inhaltsverzeichnis und einen Kurztext über das Buch zu verfassen. Dazu unternahm ich einen ersten Tauchgang in Hans’ Leben. Er zeigte mir auf, dass ich mir um den Inhalt wohl keine Gedanken machen musste – obschon es in seinem Leben keine dramatischen Brüche gab wie etwa beim Spitzenschwinger Matthias Glarner und seinem fürchterlichen Sturz von einer Seilbahnkabine. Sich mit einem Menschen auseinanderzusetzen ist so, wie wenn man einen Stein in einen Teich wirft: Eine Welle löst die nächste aus.
Wie verliefen die Gespräche mit Pieren?
Vom 28. März bis Mitte Mai führten wir zwölf Interviews. Das längste dauerte viereinhalb Stunden. Wir sassen von fünf Uhr abends an in Pierens Stube. Die Dämmerung trat ein, es wurde dunkler und dunkler. Wir waren so in unsere Unterhaltung vertieft, dass wir es gar nicht merkten. Erst als wir einander kaum mehr erkennen konnten, fiel es Hans ein, vielleicht mal Licht zu machen. Er hätte die Stromrechnung bezahlt, meinte er lachend. Das zeigt, wie wir jeweils in unseren Gesprächen versanken.
Da mussten Sie sicher viel mitschreiben.
Nein, ich habe alle unsere Dialoge auf Band aufgenommen, ohne mir parallel Notizen zu machen. So konnte ich mich vollständig auf mein Gegenüber konzentrieren.
Aber irgendwann mussten Sie die Aufnahmen ja verschriftlichen?
Zu Hause hörte ich mir die Aufzeichnung mehrmals an, formulierte den Text und brachte ihn in passender Reihenfolge zu Papier. Anschliessend schickte ich das Manuskript Hans, der ab Mitte Mai bis Ende Juli in Spanien in seinem Ferienhaus weilte. Er korrigierte und ergänzte die Entwürfe mit neuen Geschichten und Gedanken, die ich dann wiederum verarbeiten musste. Zu guter Letzt ging das Ganze an meinen Bruder Toni. Die Verlegerin hatte ihn mit dem Lektorat betraut.
Wie haben Sie in die Texte hineingefunden?
Der erste Satz ist immer der schwierigste. Dann geht es um die Abfolge: Was kommt wann? Welches Bild passt wohin? Wenn das Gerüst einmal steht, ist der Rest sprachliches Handwerk.
Das Buch ist reich illustriert. Woher stammen all die Bilder?
Hans Pieren hat ein riesiges Archiv über seine vielfältigen Aktivitäten angelegt. Es mag 6000 bis 7000 Bilder enthalten. Weitere Quellen waren die Weltcup-Organisation, die Fotoagentur Keystone, heute Keystone-SDA, der Skiclub Adelboden und Freunde und Bekannte. Die Fotoalben aus der Kinder- und Jugendzeit lieferten Stoff für die entsprechenden Kapitel.
Diese Bilder alle zu sichten brauchte sicher eine Weile ...
O ja! Die Bildauswahl und die Zuordnung zu den passenden Textteilen war sehr anspruchsvoll und zeitraubend. Wir sassen tagelang bei Hans Pieren zu Hause vor dem Bildschirm. Die endgültige Zuordnung zu den Textstellen nahmen wir dann bei mir daheim in meinem Bürozimmer vor, das ich kurzeitig um einen Arbeitsplatz erweitert hatte.
Was hat Sie an Hans Pierens Persönlichkeit besonders fasziniert?
Hans ist ein Perfektionist. Für ihn gibt es nur die allerbeste Lösung, für die er alles Erdenkliche tut. Er kann sich einem Thema vollständig hingeben, egal ob er unter misslichsten Bedingungen eine Skipiste vor dem Absaufen rettet oder ob es gilt, genau das richtige Bild für einen bestimmten Textabschnitt zu finden. Ich habe viele Gespräche mit Weggefährten von Hans geführt, ihnen ist je ein eigenes Kapitel gewidmet. Leute wie Karl Frehsner, Günter Hujara oder seine Kollegen im Weltcup-OK streichen die gleichen Eigenschaften heraus, die Hans sich selbst zuschreibt. Auch wenn er mit seiner Hartnäckigkeit nach aussen manchmal etwas verbissen wirkt: Er ist ein sehr humorvoller und warmherziger Mensch.
Pierens Perfektionismus trat vermutlich auch beim gemeinsamen Buchprojekt zu Tage?
Natürlich. Hans wollte das bestmögliche Buch entstehen lassen. Ich höre seinen Leitsatz noch heute in meinen Ohren klingen: «Es gibt unzählige Bücher auf dieser Welt. Unseres muss sich aus der Masse abheben, sonst brauchen wir es nicht zu schreiben.» Manchmal hat er mich mit seinen hohen Ansprüchen förmlich vor sich hergetrieben. Das war nicht immer einfach für mich, weil wir ja unter einem enormen Zeitdruck standen – insbesondere in den letzten sechs Wochen. Hans kam mit immer neuen Weggefährten und Episoden auf mich zu, die unbedingt noch Platz finden sollten.
Wie haben Sie auf solche Wünsche reagiert?
Mehr als einmal stöhnte ich auf, wenn er einen weiteren Einfall hatte, beispielsweise den mit dem Vorwort von Adolf Ogi, das er erst im allerletzten Augenblick ins Spiel brachte. Doch es ist gelungen und bereichert nun das Buch. Ich musste auch mehrmals als Fotograf einspringen, etwa als wir in der Schreinerei Bärtschi eine Szene nachstellten, wie Hans und sein langjähriger Skikollege Hanspeter Bärtschi einen alten Rossignol-Ski bearbeiteten. Der Umfang des Buchs wuchs mit der Zeit von den zwischenzeitlich geplanten 240 auf 336 Seiten an, was die Kalkulation der Verlegerin aus den Fugen hob. Annette Weber musste in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in einem derzeit schwierigen Markt dünneres Papier beschaffen, sonst wäre das Buch ein «Totschläger» geworden, wie sie sich ausdrückte.
Wenn Sie zurückblicken: Was war für Sie besonders schwierig an dem Projekt?
Mitte März traf mich ein gesundheitliches Problem. Eine zusätzliche chronische Augenerkrankung schmälerte meine ohnehin schon reduzierte Sehkraft so stark, dass ich am Bildschirm kaum mehr arbeiten konnte. Wie sollte ich mit dieser Einschränkung ein Buch schreiben? Ich stellte damals das gesamte Projekt in Frage. Annette Weber schlug mir vor, die Gesprächsaufzeichnungen dem Verlag zu übermitteln. Dort würden sie dann abgeschrieben. So verblieben wir, bis ich Anfang Mai dank einer Injektion ins Auge einen Teil der Sehkraft wiedererlangte. Sie ermöglichte mir, wieder selbst am Computer zu schreiben. Davon abgesehen gab es weitere, organisatorische Erschwernisse.
Welche waren das?
Hans weilte bis Ende März in Peking und von Mitte Mai bis am 20. Juli in seinem Ferienhaus in Spanien. Wir konnten uns insgesamt nur gerade während zweieinhalb Monaten von Angesicht zu Angesicht austauschen. In der restlichen Zeit flogen die Mails manchmal wie Pingpongbälle hin und her. Der grosse Zeitdruck war für Hans und mich sehr herausfordernd. Ich führte bei mir die Siebentagewoche ein und arbeitete häufig bis nach Mitternacht und darüber hinaus. Den Ausnahmesommer 2022 verbrachte ich im abgedunkelten Arbeitszimmer am Computer. Zum Glück funktionierte das Teamwork sehr gut. Auch mein Bruder Toni, mein «sprachliches Gewissen», hat sich intensiv in die Texte eingebracht und war mir eine grosse Hilfe, die weder Nacht- noch Wochenendarbeit scheute. Unsere Layouterin im Weber-Verlag hat einen tollen Job gemacht. Sie war sehr aufmerksam, schnell und genau. Und auch die schon erwähnte Annette Weber hat mich immer unterstützt, wenn es nötig war. Nur so konnten wir das Buch zeitgerecht fertigstellen.
Bei all dem Stress: Ist Ihnen die Arbeit auch mal verleidet oder hatten Sie mal einen Schreibstau?
Nein, das würde ich nicht behaupten. Ich musste mir einfach ab und zu einige Stunden Zeit nehmen, um etwas Abstand zu gewinnen. Es kam glücklicherweise nie so weit, dass ich mich «leergeschrieben» fühlte. Die Texte flossen, weil sie fliessen mussten.
Wie ist es, sich so intensiv mit einer Person zu befassen?
Das war für mich eine ganz neue Erfahrung. Sich so vollständig auf jemanden einzulassen, ist faszinierend. Es ist, als blicke man in ein Kaleidoskop, das immer neue farbige und unerwartete Bilder entwirft. Ich habe mich während der letzten acht Wochen vor der Ablieferung mit nichts anderem mehr beschäftigt als mit dem Pieren Hans. Mein Leben drehte sich fast nur noch um ihn.
Geht man sich während einer so intensiven Zeit nicht auch mal auf die Nerven?
Nein. Wir haben viel gelacht und ab und zu auch gestritten. Gewisse Charakterzüge sind uns beiden eigen. Auch ich gebe mich nicht mit dem Minimum zufrieden und kann mich mit Haut und Haaren einer Aufgabe hingeben und dabei die Zeit vergessen. Wir teilten die Leidenschaft, das beste Buch zu machen, das in unseren Kräften stand. Hans fordert viel und hat klare Vorstellungen. Seine Ansprüche sind hoch, aber sie dienen immer der Sache.
Was haben Sie bei diesem Projekt gelernt?
Ich habe drei Erkenntnisse gewonnen. Erstens: Ich kann ein Buch schreiben. Zweitens: Ich bin noch in der Lage, meine Leistung massiv hochzufahren, wenn es die Situation erfordert. Drittens: Ich kann mich anscheinend gut auf eine Person einlassen.
Würden Sie ein neues Buchprojekt anpacken?
Warum nicht, wenn die Gesundheit es zulässt? Allerdings nur mit dem doppeltem Zeitrahmen! Einen Langstreckengalopp wie beim Pieren-Buch möchte ich lieber nicht wiederholen müssen. Sollte es nicht mehr dazu kommen, ist das Pieren-Buch eben mein Vermächtnis als Schreiberling.
Sie haben heute das erste Exemplar in den Händen gehalten. Was löst das für ein Gefühl aus?
Ich bin schon ein wenig stolz auf das gemeinsam Erreichte. Bücherschreiben ist Teamwork. Alle haben ihr Bestes gegeben und wir dürfen Freude an unserem Werk haben. Ich hoffe, dass das Buch genügend Leserinnen und Leser findet und der Mut der Verlegerin belohnt wird.
INTERVIEW: YVONNE BALDININI