«Ich hoffe, ihr wisst das zu schätzen»
22.10.2024 Kandergrund, Blausee, MitholzFreitagabend wohnten 200 Stimmberechtigte einem seltenen Ereignis bei: der Vor-Ort-Wahl ihres nächsten Gemeinde(rats)präsidenten. Die Auswahl war gross – was sowohl Roman Lanz als auch sein frisch erkorener Nachfolger als Privileg betrachten.
BIANCA ...
Freitagabend wohnten 200 Stimmberechtigte einem seltenen Ereignis bei: der Vor-Ort-Wahl ihres nächsten Gemeinde(rats)präsidenten. Die Auswahl war gross – was sowohl Roman Lanz als auch sein frisch erkorener Nachfolger als Privileg betrachten.
BIANCA HÜSING
«Eine Verschiebung der Traktanden können Sie nicht beantragen, weil wir nur eines haben.» Dieses Zitat stammt nicht etwa von Roman Lanz, sondern von seinem Vorgänger Fritz Inniger. An der Frühjahrs-Gemeindeversammlung 2016 hatte es nichts anderes zu besprechen gegeben als die Jahresrechnung, was Inniger zu dieser scherzhaften Bemerkung veranlasst hatte. Letzten Freitag sagte Lanz so ziemlich das Gleiche – ebenfalls lachend. Davon abgesehen hätten die damalige und die aktuelle Versammlung unterschiedlicher nicht sein können. 2016 waren nebst dem Gemeinderat nur 3 Stimmberechtigte anwesend, nach 15 Minuten war Schluss. Die jüngste, ausserordentliche Versammlung wurde von 200 BürgerInnen besucht und endete nach knapp anderthalb Stunden.
Der Ort hat sich verändert
Der Grund für den verhältnismässig grossen Andrang war die Wahl des nächsten Gemeinde(rats)präsidenten. Während Roman Lanz 2016 und 2020 konkurrenzlos still gewählt worden war, standen diesmal gleich drei BewerberInnen zur Auswahl: die beiden amtierenden Gemeinderäte Ivo Kratzer und Roland Stoller sowie die selbst ernannte «Quereinsteigerin» Gisella Nünlist. Die Unterschiede in Sachen Stimmbeteiligung und KandidatInnenzahl deuten darauf hin, dass sich Kandergrund in den letzten Jahren verändert hat – und man muss kein Experte sein, um zu wissen, woran das liegt: Mitholz. Seit das VBS 2018 bekannt gegegeben hat, welche Gefahr noch heute vom ehemaligen Munitionslager ausgeht, ist hier nichts mehr wie vorher. Die 800-Seelen-Gemeinde ist international bekannt und hat Probleme zu bewältigen, für die den meisten SchweizerInnen die Vorstellungskraft fehlen dürfte. Wer diese Gemeinde führt, muss auf viele Sondersitzungen und Presseanfragen gefasst sein. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich gleich drei Personen dafür anboten.
So stellte denn auch Roman Lanz mit Genugtuung fest, wie privilegiert Kandergrund sei. Während andere Gemeinden ihre politischen Ämter nur noch mit Mühe besetzen könnten, gebe es hier eine richtige, sogar physische, Wahl. «Ich hoffe, ihr wisst das zu schätzen», appellierte er an die Stimmberechtigten in der Turnhalle.
Was nicht besonders überraschte: In allen drei Vorstellungsreden kam Mitholz als Schwerpunktthema vor, für Gisella Nünlist war es sogar das einzige Thema. Sie warb für mehr Miteinander zwischen MitholzerInnen und dem übrigen Kandergrund. Ihre politisch erfahreneren Mitbewerber hatten noch diverse andere Themen in petto. So nannte Vizepräsident Ivo Kratzer beispielsweise die Integration der neuen Gemeindeangestellten und die Erweiterung des Steinbruchs. Roland Stoller sprach sich unter anderem für ausgeglichene Finanzen ohne Steuererhöhung und für eine gemeindeübergreifende Zusammenarbeit ohne Eigenständigkeitsverlust aus.
Nach der Vorstellungsrunde hätte man ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Kratzer und Stoller erwarten können. Beide sind im Dorf verwurzelt, beide sind mit den Herausforderungen der Gemeinde und den politischen Abläufen vertraut. Nünlist hatte dagegen kaum eine Chance – und den Hauptgrund nannte sie zu Beginn ihrer Ansprache gleich selbst: «Ich glaube, die meisten hier kennen mich gar nicht.»
Freigetränk zum Dank
Was dann aber überraschte: Die Wahl fiel so deutlich aus, dass es keines zweiten Wahlgangs bedurfte. Von den 198 gültigen Stimmen entfielen 118 auf Roland Stoller, 71 auf Ivo Kratzer und 9 auf Gisella Nünlist. Somit erreichte Stoller gleich im ersten Anlauf die absolute Mehrheit. Der Haustechniker und nebenberufliche Landwirt wird Roman Lanz ab 2025 beerben. Unter grossem Applaus ging er noch einmal ans Mikrofon. «Als Erstes danke ich Gisella und Ivo dafür, dass sie sich zur Wahl gestellt haben, denn das ist alles andere als selbstverständlich. Natürlich bedanke ich mich auch bei allen, die mich unterstützt haben. Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit dem Gemeinderat und der Verwaltung», sagte der sichtlich erleichterte künftige Präsident. «Und jetzt kommt der Satz, den alle hören wollen: Allen, die hier waren, spendiere ich heute ein Getränk in einer der Kandergrunder Beizen. Ihr müsst dort nur in meinem Namen aufschreiben lassen.»
Die künftige Zusammensetzung des restlichen Gemeinderats steht nun ebenfalls fest. Ivo Kratzer bleibt dem Gremium bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit (Ende 2026) erhalten. Dies hatte er bereits im Vorfeld der Wahl zugesichert. Die zwei zu besetzenden Sitze für den Wahlkreis Kandergrund werden Franziska Esskuche (bisher) und Benjamin Liechti (neu) übernehmen. Mangels Gegenkandidaturen werden sie still gewählt. Für den Mitholz-Sitz ist die einzige Kandidatin Gisella Nünlist gesetzt.
«Das war Demokratie pur!»
Im Kurzgespräch mit dem «Frutigländer» zeigt sich Roland Stoller überwältigt – nicht nur vom Ausgang der Wahl, sondern auch davon, dass überhaupt eine stattgefunden hat: «Das war Demokratie pur!» Mit einem so klaren Sieg habe er angesichts der Ausgangslage nicht gerechnet. «Es standen zwei amtierende Gemeinderäte zur Wahl, die beide aus alteingesessenen Familien kommen. Ich dachte, das wird sehr knapp.» Umso mehr freue er sich über das Vertrauen der Bevölkerung. Sein bisheriges Ressort «Bau- und Planungswesen, Bauinspektor, Landwirtschaft, Friedhof», in dem er unter anderem die Ortsplanungsrevision durchgebracht hat, wird er zugunsten des Präsidiums und der Finanzen abgeben müssen. «Das Bauressort zu besetzen, wird eine Herausforderung», schmunzelt Stoller. Er selbst sei gerne Bauinspektor gewesen, stelle damit aber wohl eine Ausnahme dar. Nach der künftigen Zusammenarbeit mit Ivo Kratzer gefragt, sagt der Wahlsieger: «Wir haben uns schon vorher versprochen, dass wir weiter so gut miteinander auskommen werden wie bisher.» Wer die beiden bei ihren angeregten Gesprächen während des Wahlvorgangs beobachtet hat, wird daran nicht zweifeln.