«Ich wollte nur überleben» – die Geschichte eines jungen Soldaten
04.11.2025 FrutigenEindrücklich brachte Autorin Celina Keute mit ihrer Lesung an der Oberstufenschule Frutigen den Schülern und Schülerinnen die Erlebnisse ihres Urgrossvaters Hermann Kronemeyer nahe. Sein Schicksal zeigt, wie grausam Krieg ist – und wie stark der Wunsch nach Frieden ...
Eindrücklich brachte Autorin Celina Keute mit ihrer Lesung an der Oberstufenschule Frutigen den Schülern und Schülerinnen die Erlebnisse ihres Urgrossvaters Hermann Kronemeyer nahe. Sein Schicksal zeigt, wie grausam Krieg ist – und wie stark der Wunsch nach Frieden bleibt.
MICHAEL SCHINNERLING
Celina Keutes Buch «Schüsse in der Stille», welches sie bei einer Lesung an der Oberstufenschule Frutigen vorstellte, ist ein eindrücklicher Zeitzeugenbericht über das Leben ihres Urgrossvaters Hermann Kronemeyer während des Zweiten Weltkriegs. Keute liegt besonders die Verständigung und Versöhnung zwischen Nationalitäten am Herzen. Sie möchte Brücken bauen und Beziehungen zwischen Menschen stärken. Die Lesung in Frutigen war Teil ihrer internationalen Lesereise und stand ganz im Zeichen dieses Engagements.
Die Jugendlichen zum differenzierten Denken anregen
Für ihre Lesung nutzte Celina Keute begleitende Materialien, darunter eine Bildschirmpräsentation mit einem Buchtrailer. Die Veranstaltung begann mit einer freien Einführung in die Erlebnisse ihres Urgrossvaters. Am Ende sprach Keute über ihre eigene Forschung, um so einen Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart zu schlagen. Gelesen wurden mehrere zentrale Szenen aus dem Buch. Besonders wichtig ist der Autorin bei Lesungen in Schulen, dass Jugendliche ein realistisches Bild davon erhalten, was Krieg bedeutet. Sie möchte ein differenziertes Denken fördern und zeigen, dass auf beiden Seiten Menschen mit individuellen Geschichten stehen – weshalb pauschale Verurteilungen fehl am Platz seien. Ihre Lesung machte deutlich, wie schnell Krieg positive Beziehungen zwischen Ländern zerstören kann und wie wichtig es ist, die heutigen friedlichen Verhältnisse zu bewahren.
«Ich wollte nicht kämpfen»
«Ich war 17 Jahre alt, als ich eingezogen wurde. Ich wollte nicht kämpfen, sondern wollte einfach nur überleben», schilderte Hermann Kronemeyer seiner Urenkelin Celina Keute seine Gefühle beim Einzug in die Wehrmacht. Diese und viele weitere Erinnerungen hat Keute in ihrem Buch festgehalten und in Frutigen vorgelesen. Eine Szene, die besonders bewegte, spielte sich ab, als französische Kriegsgefangene auf dem Weg ins Lager am Haus der Familie Kronemeyer vorbeikamen. Hermanns Mutter bat ihren Mann, den Männern einen Eimer Milch zu bringen. Als er dem Wunsch nachkam, stellte sich ihm ein Feldwebel in den Weg und drohte, ihn beim Lagerkommandanten zu melden. Der Vater zeigte auf seine Kriegsverletzung am Ellenbogen und entgegnete: «Der Feldwebel soll erst einmal selbst an die Front gehen, um Erfahrungen zu machen und den Wert von Menschlichkeit zu verstehen. Die Gefangenen haben Durst, und sie bekommen die Milch.» Entschlossen ging er weiter zu den Brigadewagen und reichte den Franzosen den Eimer, den diese dankbar entgegennahmen.
Die angedrohte Meldung blieb letztlich ohne Konsequenzen. Mit Bildern und vielen Details zeichnete Keute anhand der Lebensgeschichte ihres Urgrossvaters, der in Hoogstede-Bathorn in der Grafschaft Bentheim nahe der deutsch-niederländischen Grenze lebte, ein eindrucksvolles Bild der Kriegszeit. Hermann Kronemeyer wurde am 2. April 1927 geboren und wuchs in unmittelbarer Nähe zum Emslandlager Bathorn (D) auf. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er zunächst als landwirtschaftlicher Gehilfe auf dem elterlichen Hof, bevor er mit 17 Jahren zur Wehrmacht eingezogen wurde. Die Region war geprägt von einem ursprünglich freundschaftlichen Verhältnis zwischen Deutschen und Niederländern, das durch den Krieg stark belastet wurde. Kronemeyers Erlebnisse in dieser Umgebung bilden den Kern des Buches «Schüsse in der Stille», das seine Urenkelin verfasst hat.
Als Spähtrupp unterwegs
Eine weitere Szene, die Keute wiedergab, schilderte einen gefährlichen Einsatz an der Front. Kronemeyer und seine Kameraden kehrten von einem Spähtrupp zurück, kamen jedoch deutlich später als vereinbart – ein liegengebliebener Panzer hatte den Rückweg blockiert. Ihre Einheit erwartete sie um fünf Uhr, doch sie trafen erst gegen acht oder neun Uhr ein. In der Dunkelheit hielten die eigenen Leute sie für kanadische Soldaten und eröffneten das Feuer. Die Männer blieben stehen, riefen laut und winkten mit erhobenen Händen. Wichtig war, sich aufzurichten und nicht in Deckung zu gehen, um keinen Verdacht zu erregen. Erst als sie erkannt wurden, verebbte der Beschuss. Diese Szene verdeutlicht die innere Zerrissenheit eines jungen Mannes, der sich plötzlich als Soldat in einem Krieg wiederfand, den er nie wollte. Das Buch erzählt von Kronemeyers Kindheit an der deutsch-niederländischen Grenze, seiner Zeit als Wehrmachtssoldat und seinem späteren Engagement für Frieden und Versöhnung.
Keute betonte: «Krieg ist kein Abenteuer und kein Vergnügen. Er ist von allem nur das Schlimmste.» Dieser Satz steht sinnbildlich für die Botschaft des Buches. Er zeigt, wie sehr sich die romantisierte Vorstellung vom Krieg, wie sie etwa in Jugendbüchern jener Zeit verbreitet war, von der grausamen Realität unterscheidet. Kronemeyer schilderte eindrucksvoll, wie der Krieg ihn geprägt hat – mit Angst, Verlust, moralischen Konflikten und der ständigen Bedrohung des eigenen Lebens.
Die Lesung ging unter die Haut
Als Keute sich den Fragen der Schülerinnen und Schüler stellte, zeigte sich, wie gut informiert sie waren. Viele berichteten, dass sie durch ihre Grosseltern Wissen über den Krieg erhalten hätten. Auch das Thema Mitholz kam zur Sprache, und Keute war überrascht, wie sehr auch die Schweiz vom Krieg betroffen war. Ihr Wunsch, Jugendlichen die Schrecken des Krieges näherzubringen, traf auf offene Ohren. Die Schülerinnen und Schüler hörten aufmerksam zu und zeigten sich tief beeindruckt. Die beiden 13-jährigen Schülerinnen Blanca und Yasmin meinten: «Es war sehr mitreissend, wie die Autorin es rüberbrachte. Wir schätzen es sehr, dass wir in der Schweiz ohne Angst und Schrecken leben dürfen.» Für den Klassenlehrer David Flückiger lag der besondere Wert der Lesung darin, dass eine einzelne Person im Mittelpunkt stand und die Geschichte dadurch besonders greifbar wurde. «Die Lesung passte sehr gut zum aktuellen Weltgeschehen. Die Erzählungen waren greifbar, und wir sind zutiefst beeindruckt von der Lesung.»
Unterwegs quer durch Europa
Celina Keute ist in diesem Jahr auf einer umfangreichen Lesereise mit über 30 Veranstaltungen in sieben europäischen Ländern unterwegs. Die Reise hat sie selbst geplant und dafür zahlreiche Veranstalter kontaktiert – auch in der Schweiz. Dort wurde sie unter anderem von David Flückiger, dem Co-Schulleiter der Oberstufenschule Frutigen, für eine Lesung angefragt.
Insgesamt finden drei Lesungen in der Schweiz statt: in Langnau im Emmental, in Frutigen und in Zofingen. Es sind ihre ersten Lesungen in der Schweiz – für Keute ein besonderer Moment: «Gerade, weil es um die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg geht und die Schweiz neutral war. Das Interesse an diesem Thema schätze ich sehr und empfinde es als wertvoll, auch hier lesen zu dürfen.»
ZUR PERSON
Celina Keute wurde 1996 in Hamburg geboren und studierte Linguistik in Hamburg und Kopenhagen. Parallel absolvierte sie ein Fernstudium an einer Autorenschule. Heute arbeitet sie als Autorin und Lektorin und lebt ortsunabhängig. Auf ihren Reisen durch Europa erforscht sie die Erinnerungskulturen der Weltkriege und führt Interviews mit Menschen aus verschiedenen Ländern.

