UNTERLÄNDER IM OBERLAND

Vater war der Operetten-Typ.
Nach vier, fünf Bätziwasser polterte er auf den Beizentisch. Er schmetterte Arien wie: «Dein ist mein ganzes Herz…» oder: «Wenn ich in deine Augen schau…»
Die Lieder waren immer dieselben. Nur die Serviertöchter, denen er beim ganzen Trallali tief in die Augen schaute, wechselten.

Die Bauern liebten den kleinen Tenor aus Basel. Sie revanchierten sich für seine Töne, indem sie ihn nach Hause schleppten. Und vor unserm Chalet meiner Mutter jodelten.
Sie kam dann im Morgenrock auf den Balkon. Lächelte müde. Und kochte für die ganze Bande Spaghetti an Tomatensauce.

«Niemand kocht bessere Spaghetti als das Lotti», schwärmte Edi, der Solojodler im Dorf.
Aber Mutter war stinkmuff. Sie musste sich mit ihrem trällernden Hallodri an der Seite eh schon das Paradies auf Erden abverdienen: «…DOCH ICH BIN NICHT BEREIT, AUCH NOCH ALS DEINE KÖCHIN UM DREI UHR MORGENS FÜR EINE HORDE JODELNDER MÄNNER AM HERD ZU STEHEN!»

Dabei war Mutter ein grosser Fan der Jodelkunst. Sie kannte sich in hohen Tönen aus. Als junge Frau war ihr Sopran die brillante Stütze des Extra-Chors im Basler Theater gewesen. Sie hatte dann aber die Karriere für den Hallodri und sein «Dein ist mein ganzes Herz» aufgegeben.

«Das Kind hätte nach Mailand an die Scala gehen können…», gab die Omama im Café Schmid bei Beizerin Deli dick an. «Aber dann musste ja dieser rote Hund aus Basel anwedeln und ihr den Kopf verdrehen…»

Eines Tages stand dann prompt Lisette vor der Türe: «Hättest du nicht Lust, bei uns mitzujodeln, Lotti…?»
Also besuchte Mutter die Probe des Jodelchörlis. Und schüttelte den Kopf: «Ihr habt ganz anderes Stimmenmaterial als ich. Das ist Natur. Nichts Gekünsteltes. Vor allem ist da eine Wärme, die man spürt. Und die euer Lied ausmacht. Bei mir ist es Technik – bei euch ist es Herz…»

Vater schalt Mutter eine arrogante Kuh. Und ausnahmsweise war die Omama seiner Meinung: «Schon viele abgebrochene Karrieren sind über den Umweg eines Jodelauftritts wieder an die Mailänder Scala gekommen, Lotti…»

Mutter lachte die Tonleiter rauf und runter. Und tat die Einwände als «Blödsinn» ab.

Sie nahm weiterhin die «Ständeli» auf dem Balkon entgegen. Und kochte Spaghetti an Tomatensauce.

Der grosse Tag kam, als Lisette ausfiel. Sie lag mit roter Nase und einem Husten, der die Bilder an den Wänden erzittern liess, im Bett: «Lotti – Du musst mein Solo im ‹Bärgliebi› übernehmen. Der Saal im Adler ist voll. Und unser Jodelchörli kann nicht absagen – dort sind die Noten!»

Natürlich war die Partitur ein Leichtes für eine ausgebildete Opernsängerin. Und so sagte Mutter seufzend zu.

Wir alle gingen hin. Und erlebten dann das Fiasko. Die Stimme war perfekt – aber es fehlte ihr das gewisse Etwas, das den Menschen beim Jodeln den Hals zuschnürt. Und Tränen in die Augen treibt.

«Ich hab’s vergeigt», weinte sie bei Lisette am Bett.
«…du wirst es schon noch lernen…», meinte sie und streichelte tröstend ihre Hand.

Es kam nicht mehr dazu. Mutter fiel viel zu früh nach einem Infarkt in ein ewiges Koma – als sie endlich sterben durfte, sang der Theaterchor in der grossen Kirche zu ihren Ehren. Der Pfarrer wollte eben das Schlussgebet sprechen, als sich die Adelbodner Jodlerinnen vor dem Sarg formierten. Sie sangen «‘s Müeti» – Mutters Lieblingslied. Erst jetzt konnten wir alle weinen.

Bei der Kondolenzabnahme schüttelte Edi meinem tränenden Vater die Hände: «Ihre Stimme war etwas hart – aber sie hat die besten Spaghetti gemacht…!»

- MINU

MINU@MINUBASEL.CH

Jodeln

Image Title

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Ja. Ich benötige ein Abo.

Article

Image Title