Kampf um den roten Bereich
27.09.2024 KanderstegDie Planungszone ist für die Gemeinde Schutz und Belastung zugleich. Vor allem der Dorfkern, der mitten im Gefährdungsgebiet 1 liegt, ächzt unter den massiven baulichen Einschränkungen. Ein neuer Verein will nun verhindern, dass das Zentrum langfristig in die rote Zone ...
Die Planungszone ist für die Gemeinde Schutz und Belastung zugleich. Vor allem der Dorfkern, der mitten im Gefährdungsgebiet 1 liegt, ächzt unter den massiven baulichen Einschränkungen. Ein neuer Verein will nun verhindern, dass das Zentrum langfristig in die rote Zone gelangt.
JULIAN ZAHND
Wer sich politisch Gehör verschaffen will, muss sich geschickt anstellen. Man muss seine Interessen klar artikulieren können. Man muss möglichst überzeugende Argumente sammeln, welche die eigene Position stärken. Vor allem aber benötigt man ein breites Netzwerk, muss Verbündete um sich scharen, die Interessen bündeln. Und wenn das Netzwerk noch zu lose ist? Dann festigt man es, indem man ihm eine Form verpasst – beispielsweise die eines Vereins.
Die vier Herren, die am Montagabend im Hotel Victoria an einem langen Tisch sitzen, wissen das alles. Sie haben sich deshalb zum Ziel gesetzt, am heutigen Tag die Geburtsstunde eines neuen Vereins auszurufen – der Interessengemeinschaft (IG) Spitze Stei.
Leben mit Einschränkungen
Das Quartett bringt sowohl die fachliche Expertise als auch das politische Know-how mit, um Einfluss zu nehmen. Hotelier Casimir Platzer war zehn Jahre lang Präsident von GastroSuisse. Reinhard Höllstin und Hotelier Andreas Fetzer engagieren sich regelmässig in der Lokalpolitik, beide sassen in der Vergangenheit im Gemeinderat. Simon Hari schliesslich präsidiert die Schwellenkorporation und ist dadurch bestens informiert über die Entwicklungen am Spitzen Stein.
Was die vier eint: Alle besitzen Liegenschaften im Dorfkern – also mitten im Gefährdungsgebiet 1 der Planungszone. Gemäss Gesetz dürfen in diesem Gebiet «keine Bauten und Anlagen errichtet oder erweitert werden, die dem Aufenthalt von Mensch und Tier dienen». Der Wert des unbebauten Landes sinkt dadurch gegen null.
Derzeit befinden sich um die 100 Liegenschaften im Gefährdungsgebiet 1. Fix ist diese Zahl nicht, die Planungszone wird immer wieder den aktuellen Verhältnissen angepasst. Aufgrund getätigter Schutzmassnahmen konnten die Gefährdungsgebiete als Ganzes verkleinert werden. Im Dorfkern allerdings sanken die Risiken nicht – im Gegenteil. Ein zweites Gutachten von 2021 kam zum Schluss, dass das Abbruchmaterial durch die Dämme kanalisiert würde, worauf die Zone mit erheblicher Gefährdung im Dorfzentrum ausgeweitet wurde.
Die Gemeinde ist ihnen zu passiv
Zusammen mit Hansruedi Ryter und Ueli Künzi werden Platzer, Höllstin, Fetzer und Hari künftig im Vorstand der soeben gegründeten IG sitzen, die sich laut Statuten «für eine nachhaltige Entwicklung und wirtschaftliche Zukunft von Kandersteg» einsetzen will. Konkret will die IG verhindern, dass der Dorfkern in der Gefahrenkarte in die rote Zone gelangt.
«Wir wollen nicht gegen die Gemeinde arbeiten, sondern mit ihr zusammen», betont Casimir Platzer an diesem Abend mehrmals – so oft, dass man sich plötzlich fragt, weshalb es eine eigene IG überhaupt braucht. Die Antwort liefert Platzer in einem Satz: «Wir vermissen bei der Gemeinde den unbedingten Willen, das Zentrum aus dem Gefährdungsgebiet 1 zu holen.» Die Lokalbehörden hätten sich mit der Situation arrangiert, nähmen sie einfach so hin. Gemeinderatspräsident René Maeder, der als einer von mehreren Gemeindevertretern im Saal anwesend ist, wird den Vorwurf später zurückweisen und unterstreichen, wie sehr man sich für das Dorf einsetze. Als Angriff versteht er die IG-Gründung indes nicht: «Ich bin im Gegenteil froh, eine solche Gruppe im Rücken zu haben, die zusätzlichen Druck ausübt.» Die Gemeinde erwägt sogar, sich im Verein aktiv zu betätigen und Einsitz in den Vorstand zu nehmen, wozu sie von Platzer exiplizit eingeladen wird.
Ein mehrdimensionaler Balanceakt
Kritik an der Gemeinde zu üben, ohne diese zu verärgern: Den Spagat meistert die neue IG zumindest an diesem Montag gekonnt. Doch es ist nicht der einzige schmale Grat, auf dem sich der Verein bewegt. Auch die Risikobeurteilung ist ein herausfordernder Balanceakt zwischen den beiden Extremen Übervorsicht und Fatalismus, wie sich in den Voten zeigt. «Wenn man oben beim Spitzen Stein steht und die Dimensionen des Rutschgebiets erfasst, dann macht das schon etwas mit einem», sagt Simon Hari. Die Gefahr sei real und dürfe keinesfalls heruntergespielt werden. «Gleichwohl wollen wir hier ein einigermassen normales Leben führen und uns entwickeln können», ergänzt Platzer.
Wie bringt man diese beiden Ansprüche zusammen? Die IG hat die Wahrscheinlichkeiten im Visier. Vor allem das Szenario F2 – ein Schuttstrom bei gleichzeitigem Starkniederschlag – werde als zu hoch eingeschätzt. Es brauche daher weitere unabhängige Lagebeurteilungen. Natürlich könne der Schuss dabei auch nach hinten losgehen, sagt Platzer, denn vielleicht würden neue Experten das Risiko noch höher bewerten als bisher angenommen. «Aber wir wollen nicht einfach warten und nichts tun.» Denn vor einem Szenario fürchten sich die BewohnerInnen im Dorfkern am meisten: Dass der Kanton die bis Anfang 2027 gültige Planungszone nahtlos in die neue Gefahrenkarte überführt und die jetzigen Zustände langfristig zementiert.
Die Beurteilung eines emeritierten Professors
Gut 20 der rund 40 Anwesenden treten dem Verein noch an diesem Abend bei und erhalten erste Hinweise darauf, dass die Mitgliedschaft nicht vergeblich sein wird und sich die Dinge doch noch bewegen könnten: Bereits im Jahr 2022 bat Casimir Platzer einen emeritierten Geologieprofessor der Uni Bern um eine Einschätzung. Adrian Pfiffner machte sich vor Ort ein Bild und studierte die behördlichen Beurteilungen genau. Platzer liest der Versammlung Auszüge aus der Beurteiliung vor. Fundamentalkritik ist darin nicht enthalten. Allerdings hält Pfiffner fest, dass für ihn beispielsweise der Wechsel mancher Bereiche im Dorfkern von der mittleren in die erhebliche Gefährdung nicht ganz nachvollziehbar sei und dass es sich bei der Risikobeurteilung vermutlich um eine «Kumulation von Worst-Case-Szenarien» handle.
Ob sich der Kanton von dieser Einschätzung beeindrucken lassen wird, muss sich zeigen. Doch auch Gemeinderatspräsident René Maeder sendet gegen Ende der Veranstaltung Signale aus, welche die Anwesenden hoffnungsvoll stimmen dürften: So sei es für den Kanton denkbar, dass sich eine lokale Begleitgruppe bereits während der Erarbeitung der neuen Gefahrenkarte einbringe – etwas, das zunächst nicht vorgesehen war.
Wer sich politisch Gehör verschaffen will, muss sich geschickt anstellen. Die Drahtzieher bei der neuen IG Spitze Stei wissen, wie das geht.