Kandersteg und seine anonymen Briefe
06.06.2023 KanderstegAn der Kandersteger Gemeindeversammlung griff Franziska Ryter neben dem «Spitzen Stein» ein zweites Thema auf, das in ihr Ressort fällt. Ende Februar / Anfang März war ein anonymes Schreiben an verschiedene Behörden und Medien geschickt worden. Der Autor oder die Autoren nannten sich selbst «eine Gruppe von Kanderstegerinnen und Kanderstegern». Auf mehreren Seiten listeten sie vermeintliche Baurechtsverstösse auf und dokumentierten diese mit Zonenplanausschnitten und Fotomaterial. Der Generalvorwurf aus dem Schreiben lautete: die Behörden schauen bei solchen Vergehen systematisch weg – jedenfalls dann, wenn sie von bestimmten «mehrbesseren Bürgern» begangen würden. Weil eines der Schreiben ans Regierungsstatthalteramt ging, wurde dieses aktiv und forderte bei der Gemeinde Kandersteg eine schriftliche Stellungnahme an.
Franziska Ryter war die Enttäuschung über den anonymen Brief noch immer anzumerken. Sie habe sich nach dem ersten Lesen gefragt, wie die Autoren zu ihren Interpretationen und Aussagen gekommen seien. «Wieso haben sie nicht bei der Gemeinde nachgefragt? Haben sie wirklich die publizierten Baugesuche im Amtsanzeiger nicht gelesen? Haben sie nicht mitbekommen, dass die Gemeindeverwaltung alle erteilten Baubewilligungen auf der Gemeinde-Website veröffentlicht?» Die Autoren des Schreibens hätten als Grund für ihre Anonymität angegeben, Angst vor Repressalien zu haben, so Ryter. «Ich frage mich, wie diese Repressalien aussehen sollten. Jeder Bürger hat doch das Recht, Auskunft zu erhalten.»
«Fragt doch einfach nach»
Was auch immer die Motivation hinter dem Brief war: Die Gemeinde musste dem Regierungsstatthalteramt eine umfangreiche Materialsammlung zur Verfügung stellen. «Von den Sachverhalten, die wirklich nicht rechtens waren, hatte der Gemeinderat schon vor dem Eintreffen dieses Briefs Kenntnis. Und er war schon länger daran, diese Angelegenheiten zu regeln.»
Man warte nun noch die Rückmeldung der Regierungsstatthalterin ab, so Ryter. Für sie selbst sei dieses Thema nun erledigt. Schade sei allerdings, dass der relativ grosse zeitliche Aufwand, der für das Zusammentragen der Unterlagen anfiel, niemandem etwas nützt. «Die Absender haben keine Möglichkeit, zu ihren Anschuldigungen eine konkrete Auskunft und Antwort zu bekommen. Sie werden weiterhin im Glauben bleiben, in Kandersteg schaue niemand hin, nicht einmal der Kanton, und es sei hier alles erlaubt.»
Franziska Ryter schloss ihre Information mit dem Aufruf, im Zweifel doch bitte einfach nachzufragen, entweder direkt beim Nachbarn, wenn dort bauliche Massnahmen durchgeführt würden, oder bei der Gemeinde.
«Es ist nie zu spät»
Gemeinderatspräsident René Maeder äusserte sich anschliessend zur Kandersteger «Tradition», Behördenmitglieder und Privatpersonen mit anonymen Briefen einzudecken. Seit Jahren würden immer wieder solche Schreiben auftauchen, formuliert in einem teils nicht zitierbarem Wortlaut. «Das hat leider nicht aufgehört», stellte Maeder fast resigniert fest. Natürlich könne man sagen: «Das ist anonym, das ignoriere ich.» Aber solche Erlebnisse würden die Betroffenen eben doch beschäftigen, teils über eine längere Zeit hinweg. «Ich wünsche mir, dass der oder die Schreibenden zur Einsicht kommen, in Zukunft damit aufzuhören», schloss Maeder. «Es ist nie zu spät!»
Dass die anonymen Briefe auch die Bevölkerung beschäftigen, war nach diesen Schilderungen mit Händen zu greifen. War vorher noch gescherzt und geredet worden, so war es nun absolut still im Saal.
Dass es auch anders als anonym geht, zeigte später ein Bürger im Traktandum «Verschiedenes», der sich von der Gemeinde ungerecht behandelt fühlte. Er monierte, dass er auf mehrere Anfragen nicht die versprochenen Informationen erhalten habe. Sowohl der zuständige Gemeinderat Willy Minnig als auch Ratspräsident René Maeder hatten nun Gelegenheit, an Ort und Stelle auf die Anliegen des Redners einzugehen und um Entschuldigung zu bitten. Zwar konnten nicht alle Fragen vor Ort geklärt werden. Aber seitens der Gemeinde ist das Problem nun erkannt, sodass Abhilfe geschaffen werden kann.
POL