«Kinder zu schlagen, ist immer falsch»
15.08.2025 JustizDas Regionalgericht Oberland hat am Dienstag eine Mutter mit einer Busse bestraft, weil sie eines ihrer Kinder zweimal heftig ins Gesicht geschlagen hatte. In seiner Urteilsbegründung stellte der Gerichtspräsident unmissverständlich klar, dass die körperliche ...
Das Regionalgericht Oberland hat am Dienstag eine Mutter mit einer Busse bestraft, weil sie eines ihrer Kinder zweimal heftig ins Gesicht geschlagen hatte. In seiner Urteilsbegründung stellte der Gerichtspräsident unmissverständlich klar, dass die körperliche Züchtigung von Kindern heute strafbar ist.
Laut dem 16. Bericht der Nationalen Kinderschutzstatistik sind 2024 in der Schweiz vier Kleinkinder an den Folgen von Misshandlungen gestorben. Die Zahl der wegen vermuteter Misshandlungen in Schweizer Spitälern behandelten Kinder wird mit 2084 angegeben. Besonders besorgniserregend ist der starke Anstieg der Fälle von körperlicher Gewalt: 2024 wurden 705 Fälle gemeldet, 153 mehr als im Vorjahr. Gleichzeitig wurden 437 Fälle psychischer Misshandlungen aktenkundig. Die tatsächlichen Zahlen dürften höher liegen, da viele Fälle weder gemeldet noch als solche erkannt werden.
Details über die einzelnen Schicksale dringen aus gutem Grund sehr selten an die Öffentlichkeit. Kinder geniessen einen erhöhten Persönlichkeitsschutz: Die ermittelnde Polizei sowie die Kinderund Erwachsenenschutzbehörde (KESB) behandeln alle Fälle höchst vertraulich. Einen besonderen Schutz geniessen Kinder auch vor Gericht. Deshalb verzichtet der «Frutigländer» an dieser Stelle auf Angaben zu den persönlichen Verhältnissen der Beteiligten und beschränkt sich auf die Wiedergabe von Informationen, die zum Verständnis des delikaten Rechtsfalls nötig sind.
Der Sachverhalt
Die Ehe des betroffenen Elternpaars sei schon seit einiger Zeit zerrüttet gewesen, sagte der Gerichtspräsident im Rahmen der Gesamtwürdigung. 2023 wurde der KESB erstmals gemeldet, dass die Mutter ein Kind schlage. Im Rahmen eines Eheschutzverfahrens wurde im Mai 2024 die Trennung der Ehegatten gerichtlich angeordnet, das Sorgerecht für die beiden Kinder dem Vater übertragen.
Der Mutter wurde ein «begleitetes Besuchsrecht» zugesprochen. Sie darf die Kinder bis auf weiteres nur in Anwesenheit einer Begleitperson in regelmässigen Abständen sehen.
Nach der Rückkehr der Kinder von einem dieser «Besuchstage» stellte der Vater Ende 2024 am rechten Auge des älteren Kindes einen Bluterguss fest.
Er liess die Verletzung beim Hausarzt sowie im Regionalspital dokumentieren. Die Kinderschutzgruppe des Inselspitals führte eine professionelle Befragung des Opfers durch. Eine zweite Gefährdungsmeldung bei der KESB löste Ermittlungen der Polizei und der Staatsanwaltschaft aus. Dabei stellte sich heraus, dass die Mutter regelmässig gegen ein von der Polizei verhängtes «Rayonverbot» verstiess. Gemäss dieser amtlichen Verfügung war es der Frau untersagt, sich dem Wohnsitz des Ehemannes und der Kinder zu nähern.
Nach Abschluss der Ermittlungen erliess die Staatsanwaltschaft Oberland gegen die Mutter einen Strafbefehl und verurteilte sie wegen mehrfacher Tätlichkeiten gegen das ältere Kind und wegen mehrfacher Verstösse gegen die Fernhalteverfügung der Kantonspolizei zu einer Busse von 1000 Franken sowie zur Zahlung der Gebühren in der Höhe von 300 Franken.
Dem geschlagenen Kind sprach die Staatsanwaltschaft eine Genugtuung von 500 Franken zu.
Aussage gegen Aussage
Vor Gericht als Zeuge befragt, bestätigte der Vater, dass die von ihm getrennt lebende Ehefrau nach wie vor gegen das Rayonverbot verstosse. Er verwies auf Videoaufnahmen, die dem Gericht als Beweismittel vorlagen. Aufgrund der zweijährigen Wartezeit könne er die Scheidungsklage aber erst im Mai 2026 einreichen.
Zum blauen Auge sagte er: Anfänglich habe sein älteres Kind erklärt, der Bluterguss stamme von einer Rauferei mit dem jüngeren Geschwister. Später habe das Opfer seine Aussage aber korrigiert und die Mutter als Verursacherin bezichtigt. Letztere bestritt vor Gericht, das Kind geschlagen zu haben. Dieses habe sich die Verletzung selbst beigebracht, als es sich «in einer reflexartigen Bewegung die Hand selber ins Gesicht schlug».
Angesprochen auf die Verstösse gegen das Rayonverbot sagte die anwaltlich nicht vertretene Frau, sie wolle doch nur mit ihrem Mann über eine Fortsetzung der Ehe reden. Dieser aber verweigere das Gespräch.
In ihrem Plädoyer stellte die Rechtsvertreterin des Kindes als Privatklägerin klar, dass eine Selbstverletzung theoretisch zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich sei. Aufgrund der eindeutigen Aussagen des Kindes während der professionellen Befragung durch die Kinderschutzgruppe des Inselspitals sei eher davon auszugehen, dass die Mutter die Nerven verloren und ihr Kind geschlagen ab. Die Anwältin plädierte auf einen Schuldspruch wegen einfacher Körperverletzung, eventuell wegen mehrfacher Tätlichkeiten.
Kein Züchtigungsrecht mehr
In seinem Urteil folgte das Regionalgericht Oberland im Wesentlichen der Argumentation der Staatsanwaltschaft sowie der Privatklägerin und betonte, die Aussagen des Vaters seien glaubwürdiger als die der beschuldigten Mutter. Insbesondere habe der Mann in der Befragung nur Tatsachen geschildert, die er selber gesehen hatte, und auf weitere Anschuldigungen gegen seine Frau verzichtet. Entgegen der Ansicht der Privatklägerin qualifizierte das Gericht die Schläge aber als wiederholte Tätlichkeiten und nicht als einfache Körperverletzung. Zum Thema Züchtigungsrecht, das 1978 aus dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) gestrichen wurde, sagte der Gerichtspräsident: «Kinder zu schlagen, ist immer falsch, auch wie sie einem zur Weissglut treiben.»
Am Ende der vierstündigen Verhandlung fiel die Strafe für die Mutter höher aus als die Sanktion die Staatsanwaltschaft im Strafbefehl: Die Beschuldigte wurde zu einer Übertretungsbusse in der Höhe von 1250 Franken verurteilt. Die Verfahrenskosten in der Höhe von 2250 Franken reduzieren sich auf 1650 Franken, wenn die Verurteilte das Urteil anerkennt und auf eine schriftliche Begründung verzichtet.
Dem geschlagenen Kind muss die Mutter, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, eine Genugtuung von 500 Franken bezahlen. Ausserdem wird sie der Anwältin des Opfers eine Parteikostenentschädigung von 3145 Franken überweisen müssen.
Über die Scheidungsmodalitäten und das Sorgerecht wird ein Zivilgericht erst dann urteilen, wenn die Scheidungsklage eingereicht wurde.
PETER SCHIBLI