Kinderreich in kinderarmen Zeiten
07.05.2024 GesellschaftMUTTERTAG Barbara Zürcher hat viermal mehr Nachwuchs als die Durchschnittsfrau in der Schweiz. Die in Achseten wohnhafte Pfarrersfrau schildert, wie es sich in einem Familienmodell lebt, das zunehmed aus der Mode gerät.
JULIAN ZAHND
Weshalb hat man ...
MUTTERTAG Barbara Zürcher hat viermal mehr Nachwuchs als die Durchschnittsfrau in der Schweiz. Die in Achseten wohnhafte Pfarrersfrau schildert, wie es sich in einem Familienmodell lebt, das zunehmed aus der Mode gerät.
JULIAN ZAHND
Weshalb hat man heute noch Kinder? Barbara Zürcher sitzt in ihrer rustikalen Stube auf einer Eckbank und antwortet erst einmal nichts. Danach zuckt sie mit den Schultern. Und sagt wieder nichts. Nach einer weiteren Weile dann: «Für mich fühlt es sich einfach richtig an.»
Es dauerte einige Jahre, bis die Familienkonstellation bei Zürchers «richtig» war: Insgesamt fünf Kinder erblickten das Licht der Welt, heute sind sie zwischen 7- und 14-jährig.
«Kinderkriegen hat nichts mit Leistung zu tun»
Dem Zeitgeist entspricht dieses Familienmodell nicht. Seit rund 30 Jahren liegt die Fertilitätsrate in der Schweiz bei unter 1,5 Kindern pro Frau. 2022 brachten die Frauen im Land durchschnittlich 1,39 Kinder zur Welt – so wenige wie seit 20 Jahren nicht mehr. Über die Gründe wird viel gemutmasst, einige Erklärungen sind aber durchaus plausibel. Da ist zum einen die Individualisierung, der zunehmende Drang nach Freiheit und Selbstbestimmtheit.
Dass man sich und seine persönlichen Bedürfnisse eine Zeit lang komplett aufgibt, verneint Barbara Zürcher nicht. Allerdings seien die Charaktere ihrer Kinder völlig unterschiedlich gewesen: Manche benötigten eine enge Begleitung und viel Aufmerksamkeit, andere beschäftigten sich bereits früh selbstständig. Wichtig war für die fünffache Mutter stets, dass jedes Kind das erhielt, was es brauchte. «Natürlich war das phasenweise sehr kräftezehrend. Doch unter dem Strich sagte ich mir: Was sind schon anderthalb Jahre in einem vielleicht 80-jährigen Leben.»
Ein Kind auszutragen, es zu gebären und grosszuziehen ist ein anstrengender Akt. Viele Frauen ziehen denn auch nach einem oder zwei Kindern einen Schlussstrich. Woher nahm Barbara Zürcher die Energie, diesen Prozess ganze fünf Mal auf sich zu nehmen? Bevor sie die Antwort gibt, stellt die Familienfrau etwas klar: «Kinderkriegen hat für mich nichts mit Leistung zu tun. Manche Frauen machen sich klein, indem sie mir sagen, sie hätten halt keine oder ‹nur› zwei Kinder. Diese Wertung finde ich schade. Das Ziel ist es doch, dass jede Frau das für sie passende Leben führt – sofern das möglich ist: Denn es gibt leider auch viele Frauen, deren Kinderwunsch sich nie oder nur teilweise erfüllt.» Anstrengend sei ihr Leben phasenweise aber schon gewesen, und zwar so sehr, dass sie die Strapazen alleine nicht hätte schultern können. Ihr Ehemann Simon ist Pfarrer bei der Evangelisch-methodistischen Kirche Frutigland und konnte sich seine Arbeitszeit relativ flexibel einteilen. «Er war dreimal täglich mindestens während des Essens zu Hause, das war eine enorme Unterstützung», so Barbara Zürcher.
Nachbarschaftshilfe und «Wahlgrosseltern»
Auch die Nachbarschaft habe sie getragen. Im Jahr 2015 zogen Zürchers von Niederuzwil in St. Gallen nach Achseten. In dieser freikirchlich geprägten Gegend fühlen sie sich als Grossfamilie gut integriert. Die Nachbarn sprangen zeitweise für die Kinderbetreuung ein, in Frutigen lernten Zürchers ein älteres Ehepaar kennen, das sie als «Wahlgrosseltern» bezeichnen und das eine enge Beziehung zu den Kindern pflegt. «Der Spruch, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen, scheint mir von der Realität gar nicht so weit entfernt zu sein», meint Barbara Zürcher.
Doch längst nicht alle Eltern haben ein solches Beziehungsnetz. Was hält die 45-jährige Mutter davon, wenn in solchen Fällen der Staat einspringt und die Eltern unterstützt? Barbara Zürcher würde sogar noch einen Schritt weitergehen: Ein Grundeinkommen für alle, das fände sie eine gute Sache, da ein solches allen mehr Freiheit einräumen würde. Denn schliesslich seien Kinder nicht einfach Privatsache, sie seien vielmehr die Zukunftsperspektive einer Gesellschaft und kämen daher auch der Allgemeinheit zugute. «Stellen Sie sich einmal eine Welt ohne Kinder vor. Für mich ist das überhaupt kein schöner Gedanke.»
«Ohne diesen Glauben wäre ich schon heute verloren»
Einen weiteren Grund, weshalb sich Frauen in der Schweiz zunehmend gegen Kinder entscheiden, sehen Experten in der allgemeinen Weltlage: Die Fortschrittserzählung des 20. Jahrhunderts ist mittlerweile erschöpft, angesichts der gegenwärtigen globalen Herausforderungen bezweifeln viele, dass kommende Generationen das Lebensqualitätsniveau ihrer VorgängerInnen noch erreichen werden. Kann man Kindern die Welt von heute überhaupt noch zumuten? Barbara Zürcher überlegt und sucht nach den richtigen Worten. «Ja», sagt sie schliesslich, denn: «Kinderkriegen ist für mich untrennbar mit Hoffnung verknüpft. Hoffnung, dass die Nachkommen die Welt in einem bestimmten Sinne verändern und die Aufgaben von heute lösen werden. Ohne diesen Glauben wäre ich schon heute verloren.»
Barbara Zürcher sieht es als ihre Aufgabe als Mutter, ihre Kinder von der Grundidee «mehr ist mehr» abzulösen. Ohne es explizit auszusprechen, übt sie an dieser Stelle Kapitalismuskritik, indem sie die in der Wirtschaft vorherrschende Maxime des ständigen Wachstums infrage stellt. Ein bestechendes Gegenmodell kenne sie zwar nicht. «Ein bisschen mehr Genügsamkeit würde uns aber sicher gut anstehen.»
Muttertag – ein fragwürdiges Konzept?
Und was hält Barbara Zürcher vom Muttertag, der dieses Jahr am 12. Mai stattfindet? «Wenn dieser einzige Tag dazu dienen soll, die Leistungen der restlichen 364 Tage im Jahr zu verdanken, dann finde ich das Konzept schon etwas fragwürdig», sagt sie. Auf den kommenden Sonntag freut sie sich trotzdem. Natürlich tüfteln die Kinder bereits an einem Überraschungsprogramm und da dürfte einges zusammenkommen: Zumindest rein mathematisch gesehen wird Barbara Zürcher an diesem Tag nämlich viermal mehr verwöhnt werden als die Durchschnittsfrau in der Schweiz.