BAUCHGEFÜHLE - Lebensträume

  17.05.2023 Kolumne

Lebensträume

Eines meiner grössten Probleme im Leben ist das Loslassen – wirklich loslassen, ohne Wenn und Aber. Oft fehlt schon die Erkenntnis, dass ich loslassen muss, wegkommen von meinen Gedanken, meinen Erwartungen.
Meine Enkelsöhne sind flotte Burschen, hilfsbereit, laut, frech, dann wieder Schmusekater und charmant. Aber wenn ich mit ihnen Schulaufgaben erledigen muss, dann sind sie nur noch pubertierende Teenager, die es nicht für nötig halten, einen Strich zu viel für die Schule zu machen. Und ich würde diese intelligenten Jungs doch am liebsten auf eine höhere Schule schicken, damit sie später die Möglichkeit haben, an einer Uni zu studieren.
Zu meiner Zeit vor mehr als 50 Jahren war der Run auf gute Lehrstellen deutlich grösser als das Bestreben, weitere dreieinhalb Jahre im Gymnasium die Schulbank zu drücken. Die handwerklichen Berufe genossen ein hohes Ansehen. Wo sind die Buben- und Mädchenträume geblieben, Berufe wie Lokomotivführer, Werkzeugmacher, Schlosser, Krankenschwester, Tierpflegerin, Kindergärtnerin oder Coiffeuse zu erlernen? Wer will sich heute noch die Finger schmutzig machen, bei Schnee, Sturm und Kälte auf dem Bau arbeiten, morgens in der Früh in der Backstube stehen, wenn alle noch im warmen Bett träumen, in der glühenden Sonne im Strassenbau tätig sein, wenn andere vorbeirauschen ans Meer, im Service hungrige Menschen bedienen, im Spital oder Altersheim kranke, pflegebedürftige, demente Menschen pflegen oder sich gar in der Schule mit aufmüpfigen, ruhelosen oder fremdsprachigen Kindern herumplagen?
Heute werden die Jugendlichen in der Schule mit allen Mitteln gefördert, manchmal sogar von ihren Eltern gepusht, um eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Berufe, die früher auf einer Lehre basierten, werden verakademisiert, etwa die Lehrerausbildung oder Berufe der Krankenpflege. Arbeiten am Schreibtisch liegen im Trend, sind doch die Löhne deutlich verlockender als auf der Baustelle, im Gastgewerbe oder in der Krankenpflege. Der Verstand hat Vorrang gegenüber den Gefühlen – rational vor emotional.
Meine vier Grossbuben aber haben nichts anderes im Kopf, als auf dem Bauernhof zu arbeiten. Die Schule zwängt sie in eine intellektuelle Jacke, die sie lieber mit Stallstiefeln und Überhosen tauschen würden. Lernen ja – aber nur, was sie interessiert. Benjamin, mein ältester Enkel, kennt viele Tiere, interessiert sich für Geschichte, gleicht einem wandelnden Lexikon und möchte Bauer werden. Im Sommer arbeitet er am liebsten hoch oben unter dem Steinschlaghorn auf der Alp Gunggstand. Jede freie Minute verbringt er in der Natur, hilft Ziegen pflegen, hirtet die Lamas einer Bekannten, zügelt die Hochlandrinder auf die Alp, melkt Kühe und Geissen und erledigt pflichtbewusst die Stallarbeiten – aber bei den Schularbeiten liegt die Freude an einem kleinen Ort. Letzthin erzählte mir Benjamins Klassenlehrer, dass mein Enkelsohn seinen Mitschülern beim Thema Umweltschutz so viele Zusammenhänge vermitteln konnte, dass er den Unterricht dabei beinahe selbstständig führte. Da ist bei mir der Groschen gefallen: Warum diesen interessierten Jüngling mit Schulwissen traktieren? Wieso immer wieder darauf hinweisen, wie wichtig Schulbildung und Lernen für seine Zukunft sind? Freude, Eigeninitiative, Emotionen, Begeisterung erfüllen den Lebenstraum, nicht der Verstand und die Vernunft!
Heute kann ich dem Leben meiner Enkelsöhne gelassen begegnen. Ich habe Vertrauen in ihre Fähigkeiten und bin überzeugt, dass sie erkennen, wo und wie ihr Lebenstraum in Erfüllung gehen kann. Sie können anpacken und sind begleitet und umgeben von guten Menschen.

YVONNE SCHMOKER

YSCHMOKER@BLUEWIN.CH


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