Gletscher – Wasser – Leben

Heute regnet es endlich wieder. Die Bäume verfärben sich wie jeden Herbst, obschon noch sommerlich warme Temperaturen herrschen. Doch kein Frost hat das Grün der Blätter in leuchtend warme Herbstfarben verwandelt. Stattdessen hat die Trockenheit des heissesten Septembers seit Messbeginn das Laub gelb und braun gefärbt, und an diesem trüben Herbsttag wirbeln nun Wind und Regen die welken Blätter durch die Luft. In den höheren Bergregionen hat der erste Schnee die tristen, kümmerlichen Gletscherlandschaften weiss überzuckert. Der Temperatursturz hat nun auch das Abschmelzen der Gletscher bis nächsten Frühsommer gestoppt. Er reduziert die Wassermenge der Gletscherbäche, und die daraus abgeleiteten Suonen im Wallis versiegen.
Bei diesen Gedanken ist mir die Geschichte der Bewässerungsanlagen durch den Kopf gegangen, die bereits vor 1000 Jahren begonnen hat. Ohne Gletscherwasser wäre das Wallis durch die starke Sonneneinstrahlung eine Steppenlandschaft. Noch heute wird die kostbare Gletschermilch, das mineralhaltige trübe Wasser, zum Teil durch die Suonen in die Weinberge und auf anderes Kulturland geleitet. Vor langer Zeit haben mutige Männer unter Lebensgefahr Holzkänel in schroffe Felswände gehängt, um das Gletscherwasser auf ihre Felder zu leiten. Auch die Frauen haben ihren Teil zu dieser Arbeit geleistet, indem sie die Männer an ihrem Arbeitsort verpflegt und für ihr Wohl gebetet haben. Auf alten Bildern sieht man, wie der Pastor die Wasserleiten schliesslich in einem sakralen Akt segnete. Damals wurde ohne Helikopter und ohne Suva-Vorschriften gebaut. Der Wasserhüter war um den immerwährenden Wasserfluss besorgt, im Ohr immer den weitherum vernehmbaren Wasserhammer, der das Fliessen hörbar machte. Jede Familie hatte Anrecht auf Wasser, das genau getaktet war. Tesseln, unterschiedlich lange Kanthölzer, hielten die Wasserrechte jeder Familie fest. Jeden Frühsommer wurde im «Gmeiwärch» die Suone von Schlamm, Geröll und Blättern freigeschaufelt, damit das Wasser wieder den Weg auf ihre Felder fand.
Wasser bedeutet Leben – auch heute noch! Doch welchen Bezug haben wir zum Wasser? Wie achtsam gehen wir damit um? Sind wir bereit zu verzichten, im Hinblick darauf, dass dieses kostbare überlebensnotwendige Gut knapp werden könnte oder – noch viel schlimmer – bereits knapp ist (wenn wir den ganzen Erdball einbeziehen)?

YVONNE SCHMOKER

YVONNE.SCHMOKER@GMAIL.COM

Kolumne – Bauchgefühl

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