KOLUMNE – Nachhaltig
15.09.2023 KolumneWem gehört das Lamm?
Der Wolf pirscht dem Zaun entlang und sucht die ideale Stelle, um ins Gehege einzudringen, zuzuschlagen und mit einem Lamm zwischen den Zähnen das Weite zu suchen, bevor der Herdenschutzhund ihn bemerkt, oder der Hirte ihm eins auf den ...
Wem gehört das Lamm?
Der Wolf pirscht dem Zaun entlang und sucht die ideale Stelle, um ins Gehege einzudringen, zuzuschlagen und mit einem Lamm zwischen den Zähnen das Weite zu suchen, bevor der Herdenschutzhund ihn bemerkt, oder der Hirte ihm eins auf den Pelz brennt.
Das Lamm gehört eigentlich seiner Schafmutter, würde man meinen. Der Wolf sieht das ganz anders, denn für das hungrige Raubtier dient das Lamm dazu, seinen Hunger zu stillen. Der Schafbauer aber sieht das natürlich nochmals ganz anders: sein Lamm will er in ein paar Monaten schlachten und verkaufen. Klar ist bisher nur, dass das Lamm das Opfer in dieser Geschichte ist. Und dass seine Mutter nichts dazu zu sagen hat.
Spinnen wir den Faden weiter. Wem gehört der Wolf? Da gibt es eine Konvention, die in etwa sagt: der Wolf gehört der Natur. Also Finger (vom Abzug) weg! In der Realität gehen die Meinungen weit auseinander, wem nun der Wolf gehört. Der Staat hält mit dem Schutzgedanken seine Hand über den Wolf, zumindest seit ein paar Menschengenerationen. Es ist noch nicht lange her, da bezahlte er dem Jäger einen Gulden für einen Wolfsabschuss. Und er verpflichtete Bauern ohne Entschädigung, die Jagd zu unterstützen. Heute hingegen regelt er den Abschuss und die Strafverfolgung, wenn der Wolf gewildert wird. Also gehört der Wolf doch eher dem Staat.
Dieses Glück hat das Lamm nicht. Jeder sogenannt Fachkundige darf ein Lamm töten und verkaufen. Spätestens dann ist es Ware und nicht mehr Lebewesen. Der Schafbauer erhält für den Verkauf einen Batzen, denn es gehörte ja auch lebend ihm. Und das Gigot gehört nun dem, der es eben kaufte. Alles klar? Ja – bis der Wolf auftaucht.
Ein Besitzer eines Tiers ist also, wer über dessen Leben und Tod entscheiden kann, so meine erste Schlussfolgerung. Nun gibt es eine Gruppe von Leuten, die dem Jäger – und sogar dem Bauern – dieses Recht zu töten respektive zu schlachten entziehen wollen. Sie stellen meine Schlussfolgerung grundsätzlich in Frage. Ist der Staat noch Besitzer des Wolfs? Oder der Schafbauer Besitzer des Lamms? Nein, sagen sie. Und wollen so den Wolf zum Besitzer des Lamms und sich selbst zum moralischen Besitzer des Wolfs machen. Was natürlich das Bier auf dem Stammtisch überschäumen lässt.
Gut möglich, dass die Leute, die so etwas fordern, noch nie einen Wolf gesehen haben; vielleicht mal einen im Zoo. Und die wollen das Lamm nun ohne Skrupel dem Wolf zum Frass vorwerfen. Wie geht das? Woher kommt dieser Besitzanspruch? Ihre Antwort ist ganz einfach: «Das ist Natur.» Sie möchten ein Gleichgewicht in der Natur bewahren, das losgelöst von der engen Verflechtung mit den menschlichen Bedürfnissen steht. Offensichtlich sehen sie sich selbst nicht als Teil dieser Natur, fühlen sich ihr hingegen überlegen und wollen bestimmen, wie der Wolf seinen Lebensraum entwickeln darf. Das führt in unserer Gesellschaft, in der die tägliche Realität des Schafhirten scharf gegen dieses idealistische Naturbild kontrastiert, unweigerlich zum Konflikt, vereinfachend als Stadt-Land-Graben bezeichnet.
Das heutige Jagdgesetz trägt massgeblich zu dieser Auseinandersetzung bei. Tatsächliche «Besitzer» des Wolfs sind diverse Behörden, die über seinen Abschuss entscheiden. Dem Entscheid vorweg gehen mindestens acht tote Schafe, entsprechende Nachweise und ein paar Monate, bevor grünes Licht für den finalen Schuss gewährt wird, meistens einem staatlichen Jäger. Die toten Schafe gehen in den Besitz des Staats über (er entschädigt ja die Schafbauern).
Völlig besitz- respektive hilflos stehen also am Ende die Schafbauern da. Sie haben ein paar Schafe an den Wolf verloren. Ihr Handlungsspielraum ist beschränkt auf wenige Schutzmassnahmen. Der Wolf mag schon ein paar Tage später wieder Schafe reissen.
In der neuen Jagdverordnung will der Staat, wie in den letzten Jahrhunderten, regulativ in den Wolfbestand eingreifen, ungeachtet der Anzahl Risse. Den Naturschützern wird so der Wolf(besitz) wieder weggenommen, die Bauern haben weiterhin tote Tiere, ohne sie schützen zu können. Und die Wölfe betrachten Schafe weiterhin als einfache Beute, weil sie, ohne ihr Leben zu riskieren, über den Zaun springen und ein Lamm töten können.
SAMUEL B. MOSER
NACHHALTIG@BLUEWIN.CH