Zufallsschützin oder Naturtalent?

Zu sagen, dass ich aus einer Schützenfamilie komme, wäre übertrieben. Zu meinen frühen Kindheitserinnerungen gehört aber ein mit blauem Samt überzogenes Holzbrett, das über der grossen Treppe in meinem Elternhaus aufgehängt war. Beim Treppensteigen kam ich nicht umhin, einen Blick darauf zu werfen. Fein säuberlich war da Auszeichnung an Auszeichnung gereiht: Erinnerungsstücke an unzählige Feldschiessen und vermutlich an das «Obligatorische». Mein Papa war ein treffsicherer Schütze. So wurde mir das jedenfalls erklärt.
Jahre später rannte mein ältester Sohn lange vor der RS mit Schutzmontur und Softgun in den Wäldern herum – zu meinem Leidwesen. Das mütterliche Verbot, sich Plastikpistolen mit dem Sackgeld zu erstehen, hatte nichts genützt. Der Bubentraum war grösser.
Ich finde Waffen alles andere als erstrebenswert. Für mich sind sie ein Sinnbild für Gewalt und Krieg. Durch sie sterben täglich unschuldige Menschen und sie erzeugen unsägliches Leid unter Zivilist-Innen. Meine Meinung tat ich ewig lauthals kund, im Wissen, dass meine Worte im Nirgendwo verhallten.
Dass mein Ältester in Opas Fussstapfen trat, machte diesen sehr stolz. An eine Kellertür hängte er Zielscheiben auf, und die beiden machten gemeinsam Schiessübungen mit einem Luftgewehr. Vor vier Wochen organisierte der Schützenverein Malans ein «Grümpi-Schiessen». «Also, was genau?», fragte ich an einem Treffen mit Freunden ziemlich ungläubig nach, weil ich dachte, mich verhört zu haben. «Grümpi» und Fussball passen für mich zusammen. Aber Schies sen? Nein. Alle seien eingeladen, mitzumachen. Natürlich verneinte ich vehement. Nicht einmal im Traum würde ich da mitmachen.
Als dann die Tochter meines Partners sagte, sie würde das gerne einmal probieren, war mein Schicksal besiegelt. Nach mehreren Probeschüssen, bei denen unter fachkundiger Leitung «mein Sturmgewehr» eingestellt wurde, war ich parat für meine zehn Schüsse. Als eine Neun aufleuchtete, war ich ganz relaxed. Anwesende Mitglieder des Schützenvereins kommentierten meinen Treffer mit «Zufall». Mein zweiter Schuss traf glatt den Mittelpunkt der Scheibe und aus «Zufall» wurde «Naturtalent». Die restlichen acht Treffer wurden nicht angezeigt, das gehört zum Modus dieses «Grümpis».
Die Gewinnerinnen und Gewinner werden erst am 11. November im Rahmen des «Grümpiabends» verkündet. Laut Aussagen von Wiederholungstätern soll es wie an einem Schwingfest einen gros sen Gabentempel geben. Abwarten und Tee trinken, heisst es jetzt also. Für mich ist klar, dass ich mich mit den restlichen acht Schuss nur verschlechtern konnte. Und trotzdem warte ich mit einer gewissen Spannung auf die Verkündung der Besten, denn ich würde lügen, wenn ich dementierte, dass mir die ganze Sache doch ziemlich gefallen hat. Schiessen in einem Schützenverein hat wohl tatsächlich etwas Faszinierendes.
Im Familienchat liessen die Kommentare nicht lange auf sich warten. Mein Sohn zeigte sich erstaunt, dass die Mama überhaupt ein Gewehr angefasst hatte und mein Papa ist sich sicher: Ich bin kein Naturtalent, das zielgenaue Treffen habe ich mit den Genen mitbekommen.

FRANZISKA KAUFMANN

FR.KAUF@GMAIL.COM

Kolumne – Spagat

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