Kolumne – The Young View
26.09.2023 KolumneKleiderberge
Vor Kurzem war ich mit einer Kollegin in einem Videocall und sie war dabei, ihr Zimmer aufzuräumen. Während unseres gemütlichen Plauderns (es gibt viel zu reden, wenn man nicht im gleichen Land wohnt und einander übers Telefon auf dem ...
Kleiderberge
Vor Kurzem war ich mit einer Kollegin in einem Videocall und sie war dabei, ihr Zimmer aufzuräumen. Während unseres gemütlichen Plauderns (es gibt viel zu reden, wenn man nicht im gleichen Land wohnt und einander übers Telefon auf dem Laufenden halten muss), sagte sie plötzlich: «Ach, meine Jeans haben ein Loch. Meinst du, das kann man noch retten?» Die Jeans waren im Schritt so durchgetragen, dass der Stoff praktisch auseinanderfiel. Ich sprach mein Beileid aus (es sind immer die besten Jeans, die man schweren Herzens entsorgen muss) und sie antwortete etwas geknickt: «Dann gehen die halt in die Kleidersammlung.» Ich musste seufzen. Kaputte Kleider in die Kleidersammlung? Vor meinem inneren Auge flackerten die Bilder von den Kleiderbergen in Ländern wie Ghana oder Chile. Der Kleiderberg im Norden von Chile, in der Atacama-Wüste, wächst um 39 000 Tonnen pro Jahr und ist mittlerweile aus dem All zu sehen. In Accra, der Hauptstadt von Ghana, sind die Kleiderberge so ausser Kontrolle geraten, dass sie nun ins Meer gelangen und die Korallen sterben, die Meeresschildkröten keine Eier mehr legen können und die Fische sowieso Reissaus genommen haben.
Meine Intuition war also: Warum nicht gleich in den Abfall mit kaputten Kleidern, wenn sie ansonsten in Atacama oder in Accra landen? So werden sie zumindest verbrannt und sind dann mal weg. Aber ich bin nunmal Forscherin und gebe mich nicht gerne zufrieden mit einer Lösung, die ich nicht genug recherchiert habe. Also las ich Artikel und Berichte, informierte mich auf der Website unseres Bundesamtes für Umwelt und beim Schweizer Kompetenzzentrum für Recycling und Kreislaufwirtschaft. Nach all der Lektüre habe ich immer noch keine Lösung, bin aber schwer frustriert und etwas hilflos. Ich weiss weder, was ich mit meinen kaputten Jeans machen soll, wenn es beim nächsten meiner zwei Paare so weit ist, noch habe ich eine Ahnung, wie man das grössere Problem von Fast-Fashion-Kleidung, die ineffizient produziert, im Durchschnitt nur ein paar Mal getragen wird und dann in der Kleidersammlung landet, angehen soll. Grundsätzlich kristallisiert sich bei mir ein Wunsch heraus: Ich will nicht, dass meine Jeans in der Atacama-Wüste oder in Accra landen. Und das einzige Konzept, von dem ich denke, dass es irgendwie hilfreich sein kann für ein Individuum, ist sogenannte «Mindfulness» oder Achtsamkeit – sprich: zweimal Nachdenken. Das gilt sowohl für den Einkauf als auch für die Entsorgung von Kleidern. Man braucht nicht für jede Saison eine neue Garderobe; synthetische Textilien gehen schneller kaputt, sind umweltschädlicher in der Produktion und mühsamer zu entsorgen; meistens, wenn was ein Loch hat, lässt sich da was machen (nicht von mir, aber Mama hat das im Griff und besitzt eine Nähmaschine); die Riesenbestellungen und -rücksendungen bei Zalando sind nicht wirklich sinnvoll, da ein Teil der Kleider manchmal direkt entsorgt wird; Secondhand-Läden sind praktischer, wenn man sie nicht mit Billigkleidern zumüllt. Leider hilft mir keiner dieser Gedanken bei kaputten Jeans, die jahrelang getragen wurden und nicht mehr zu retten sind. Falls jemand weiss, wo sie hingehören und wo sie auf keinen Fall in der Wüste landen: Bitte melden!
Letztlich ist das Ganze aber ein globales Problem und man könnte nun argumentieren: «Ja, die sollen halt nicht so was produzieren!» Na ja, es gibt so was wie Konsumverhalten, an dem sich die Wirtschaft orientiert – was wir kaufen, wird auch produziert. Schön, dass wir damit einen Müllberg geschaffen haben, den Aliens beim Vorbeiflug nun begutachten können. Die schütteln sicher den Kopf.
XENIA SCHMIDLI
SCHMIDLIX@HISPEED.CH