UNSERE GESELLSCHAFT - Wird unsere Gesellschaft egoistischer?
27.09.2024 KolumneWird unsere Gesellschaft egoistischer?
Der Mensch sei egoistisch und Einzelgänger, heisst es. In Gemeinschaften lebe er nur aufgrund kultureller Zwänge. Dieses Vorurteil geilt mittlerweile jedoch als widerlegt. «Heute wissen wir, dass es ein menschliches ...
Wird unsere Gesellschaft egoistischer?
Der Mensch sei egoistisch und Einzelgänger, heisst es. In Gemeinschaften lebe er nur aufgrund kultureller Zwänge. Dieses Vorurteil geilt mittlerweile jedoch als widerlegt. «Heute wissen wir, dass es ein menschliches Bedürfnis ist, Gemeinschaft zu erleben. Mehr noch: Es ist sogar schädlich für das Seelenheil des Einzelnen, wenn er sich zu lange absondert», heisst es in «Planet Wissen». Seit Beginn der Menschheitsgeschichte sei die Gruppe überlebenswichtig gewesen. Ein Einzelner hätte nur schwer jagen gehen können, die Aussicht auf Beute sei in der Gruppe bedeutend grösser gewesen. Auch Rücksichtnahme oder Gefälligkeit hätten sich in der Vergangenheit ausgezahlt.
Und wie zeigt sich unsere Gesellschaft heute? Eigentlich geht es uns so gut wie nie zuvor. Eine wachsende Unzufriedenheit ist allerdings spürbar. Der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft schwindet, die Legitimität unserer Demokratie wird von immer mehr BürgerInnen angezählt. Armut, Kriminalität, Drogenkonsum, Arbeitslosigkeit, Wohnungsengpässe, Digitalisierung verbunden mit Abhängigkeiten, Stress oder Klimawandel sind präsent und belasten zunehmend unseren Alltag. Einige wenige von uns werden immer reicher, während es für die übrige Gesellschaft immer schwieriger wird, über die Runden zu kommen. Das wiederum führt zu einer materiellen Unzufriedenheit, die eine Ursache des beobachtbaren mentalen Erschöpfungszustandes ist. In einer egoistischen Gesellschaft kann es zu einer Vielzahl von Problemen kommen, wie sozialer Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Konflikten und mangelnder Solidarität.
Im ersten Pandemiejahr 2020 wurde unsere Gesellschaft vom Gefühl «wir schaffen das» getragen. Fast die Hälfte der Menschen sagte bei Befragungen im Sommer 2020, dass die Solidarität sehr wichtig sei. Nach der Pandemie ist nur noch ein Viertel von dieser Solidarität überzeugt. Drei Viertel dagegen denken, dass in unserer Gesellschaft Egoismus vorherrscht. Das sollte uns nachdenklich machen, denn mit steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen werden viele Menschen wirtschaftlich noch mehr unter Druck kommen und noch mehr Distanz zur Gesellschaft entwickeln.
Der Verzicht auf Egoismus führt zu einem erfüllteren und harmonischeren Leben, sowohl für uns selbst als auch für die Menschen um uns herum. Vermehrt müssen wir unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche etwas zurückstellen. Solidarität, Mitgefühl und soziale Verantwortung müssen wieder vermehrt in den Vordergrund rücken.
Müssen wir respektvolles Verhalten gegenüber anderen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, ihrem Geschlecht oder anderen Merkmalen wieder neu lernen? Ja, unbedingt. Nur wer bereit ist, sich anderen gegenüber anständig zu verhalten und einen respektvollen Umgang pflegt, kann erwarten, dass diese auch selbst Respekt entgegenbringen. Das Problem dabei ist nur: Jemand muss damit anfangen.
Meine Empfehlung: Finden wir jeden Tag angenehme Situationen, an die wir uns gerne erinnern. Warum? Studien belegen, dass wir positive Erlebnisse oft als selbstverständlich hinnehmen. Dankbarkeit steigert nicht nur unsere Zufriedenheit, sondern wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus.
PETER JUESY
PETER.JUESY@GMAIL.COM