KOLUMNE – VIS-À-VIS

  12.08.2022 Kolumne

Sechs Tipps für die perfekte Integration

«Hallo Herr Furrer, meine Familie und ich sind vor wenigen Wochen aus dem nahen Ausland ins Frutigland gezogen. Welche Gepflogenheiten sind in unserem neuen Umfeld zu beachten?» (K.R., 48 Jahre)

Lieber Herr R., herzlich Willkommen in unserer schönen Region! Ich hoffe, Sie und ihre Familie haben sich bereits gut eingelebt. Ich habe mich im Dorf umgehört und ein paar Tipps für Sie zusammengestellt:

1. Suchen Sie sich einen Job! Auf Rückfrage bestätigten Sie, dass Sie bereits eine Arbeitsstelle angetreten haben. Herzliche Gratulation! Sie sind zu mindestens 51 Prozent schon einer von uns. Sie können im Frutigland eigentlich fast alles machen, nur eines sollten Sie nicht machen: nichts machen! So erzählen wir uns auch die Geschichte von Adam und Eva etwas anders. Hier im Tal glauben wir daran, dass Adam und Eva das Paradies nicht deshalb verlassen mussten, weil sie von der verbotenen Frucht assen, sondern weil sie den Garten nicht pflegten!
2. Seien Sie so normal wie möglich! Wir sind grosszügige Menschen und mögen Anderen die schönen Dinge des Lebens gönnen. Aber diese muss man sich zuerst verdienen (siehe Tipp 1). Fahren Sie also nicht gleich mit dem Porsche Cayenne vor, sondern erst einmal mit dem VW Passat. Wenn wir sehen, dass Sie hart arbeiten und Ihr Geld ehrlich verdienen, freuen wir uns über Ihren tollen Wagen und wären enttäuscht, Sie weiterhin im VW Passat statt im Porsche zu sehen.
3. Betreiben Sie Ahnenforschung! Und zwar möglichst ernsthaft und intensiv. Spätestens, wenn Sie nach Adelboden fahren, sollten Sie ihren Stammbaum mit allen dazugehörigen Geschichten spielerisch bis ins dritte Glied wiedergeben können. Klar, das ist eine mühsame Fleissarbeit. Aber sie ersetzt fortan alle anderen Formen des Smalltalks. Genial!
4. Kritisieren Sie niemals den roten Pass oder das Schweizerkreuz! Oder kennen Sie sonst ein Land, in dem Sie so viele Produkte mit der Nationalflagge bestückt kaufen können? Das offenbart einen unserer Charakterzüge: Wir sind bescheiden stolz. Wenn wir beispielsweise am Flughafen unseren roten Pass aus der Tasche ziehen, würden wir niemals öffentlich eine besondere Behandlung einfordern (aber selbstverständlich erwarten wir diese insgeheim).
5. Werden Sie Sprachexperte! Erliegen Sie nicht der Täuschung unserer freundlichen Worte. Wir werden in der Öffentlichkeit selten laut. Schliessen Sie daraus aber nicht, dass unsere Sätze auch immer das aussagen, was wir wirklich meinen. Sie müssen verstehen: Wir sind freundlich unfreundlich. Ob der Satz «Entschuldigung, chöit Ihr mir bitte Platz machä?» freundlich unfreundlich oder wirklich freundlich gemeint ist, entscheidet sich an einer feinen Nuancierung der Tonalität und an kleinen nonverbalen Zeichen wie unserer Körpersprache oder unserem Blick. Haben Sie etwas Geduld mit sich selbst. Beachten Sie im Zweifelsfall folgende Grundregel: Besser unecht freundlich als echt unfreundlich.
6. Schliessen Sie umgehend eine Rechtsschutzversicherung ab! Sie leben jetzt im wohl einzigen Land dieser Welt, das eigentlich gar keine Polizei bräuchte, da Ihre neuen Nachbarn diese polizeiliche Aufgabe inbrünstig übernehmen. Sollte Ihre Hecke ein paar Zentimeter auf das Grundstück Ihres Nachbarn reichen, Ihr Auto nicht ordnungsgemäss parkiert sein oder Ihre Party die Nachtruhe um ein paar Minuten überdauern, werden Sie schon bald an diesen Tipp denken.
Herzlich, Christoph Furrer

CHRISTOPH FURRER

CHRISTOPHFURRER@ME.COM

Der Autor nimmt gern weitere Fragen per Mail entgegen.


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