ZAHLEN IN WORTEN – Expedition zu einem Eismond
22.08.2023 KolumneExpedition zu einem Eismond
In der sommerlichen Hitze nehme ich Sie mit auf eine fiktive Expedition: die Erstbegehung eines ausserirdischen Gletschers. Die Reise dahin dauert eine Weile, wir brauchen also genügend Proviant in unserem Raumschiff – und ...
Expedition zu einem Eismond
In der sommerlichen Hitze nehme ich Sie mit auf eine fiktive Expedition: die Erstbegehung eines ausserirdischen Gletschers. Die Reise dahin dauert eine Weile, wir brauchen also genügend Proviant in unserem Raumschiff – und Sauerstoffflaschen, denn unsere Expedition führt uns auf einen anderen Himmelskörper, auf dem wir Menschen die Luft nicht atmen können. Wir fliegen zusammen durch unser Sonnensystem zu einem Mond des Planeten Jupiter mit Namen Ganymed.
Aber wieso um Himmelsgottswillen sollen wir da hin, wenn die Anfahrt so lange dauert und uns dort die frische Bergluft verwehrt bleibt wegen des fehlenden Sauerstoffs? Wenn es weder eine SAC-Hütte mit feinem Aprikosenkuchen gibt noch eine Bergbahn, die uns den Abstieg erleichtert? Nun, weil es unter dem Gletschereis von Ganymed vielleicht ausserirdisches Leben gibt.
Der Mond Ganymed ist mit einem Durchmesser von etwas mehr als 5000 km der grösste Mond im Sonnensystem, er ist somit auch grösser als der Mond unserer Erde. Ganymed wurde im Jahr 1610 von Galileo Galilei mithilfe eines einfachen Fernrohrs entdeckt und ist seither Forschungsobjekt vieler Astrophysiker und Planetenforscherinnen. Fast 400 Jahre nach seiner Entdeckung durch Herrn Galilei wurde Ganymed zum ersten Mal von einer Raumsonde besucht. In den letzten Jahren sind immer wieder Weltraummissionen zum Jupiter und seinen Monden geflogen. Die jüngste Mission dieser Serie wurde von der Europäischen Weltraumorganisation ESA entwickelt und ist im April dieses Jahres gestartet. JUICE, so heisst die Sonde, wird nach ihrer achtjährigen Reise zum Jupiter (ich meinte es ernst: genügend Proviant!) vor allem dessen Monde untersuchen. Auch Schweizer Instrumente, die an hiesigen Hochschulen entworfen und mit der lokalen Industrie gebaut wurden, fliegen mit.
Der Planet Jupiter hat mindestens drei Eismonde – also Monde, die komplett vom ewigen Eis überzogen sind. Ganymed ist einer davon. Unter dem Gletschereis – da sind sich Forschende einig – befindet sich ein flüssiger Ozean. Dieser Ozean ist so riesig, dass er möglicherweise mehr Wasser enthalten könnte als alle Meere der Erde zusammen. Und wie wir von der Erde wissen, hat sich Leben hier sehr wahrscheinlich anfänglich im Wasser entwickelt. Wenn wir in unserem Sonnensystem irgendwann mal anderes Leben finden sollten, dann ist die Chance in einem solchen ausserirdischen Ozean wohl am grössten. Um Spuren dieses potenziellen Lebens aufzuspüren, muss man an das Wasser unter der Eisschicht kommen. Eine Bohrung lässt die heutige Technik nicht zu, zumal das Eis mehrere Kilometer dick ist. Aber Forschende erhoffen sich, dass Wasser durch grosse Spalten im Eis nach oben schiessen könnte, und dass diese Wasserfontänen so erste Geheimnisse der Unterwasserwelt freigeben könnten. Wäre zum Beispiel organisches Material im Wasser dieser Gletscherfontänen vorhanden, könnte dies auf Leben hinweisen.
Die Sonde JUICE mit ihren modernsten Geräten und Kameras wird in den kommenden Jahren hoffentlich Antworten liefern können. Mit abschliessender Sicherheit wird aber auch diese Mission nicht klären, ob es auf dem Eismond Ganymed Leben gibt oder nicht. Mit eigenen Augen nachschauen können wir nicht. Denn Jupiter und seine Monde sind zwischen 600 und 900 Millionen Kilometer von uns entfernt, je nach Himmelskonstellation. Die menschliche Gletscherexpedition auf einen Jupitermond bleibt (vorerst) Science-Fiction.
VALERIE KOLLER
VALERIE.KOLLER@BLUEWIN.CH