Kontakt halten, auch wenns schwierig ist
03.02.2023 Aeschi, Aeschiried«Recht auf Widerstand? – dieser Frage widmete sich die Vortragsreihe der Ökumenischen Erwachsenenbildung Frutigland. Am dritten und letzten Abend sollte es um die Covid-19-Massnahmen während der Pandemie gehen, um die Konflikte, die deswegen aufbrachen, und um ...
«Recht auf Widerstand? – dieser Frage widmete sich die Vortragsreihe der Ökumenischen Erwachsenenbildung Frutigland. Am dritten und letzten Abend sollte es um die Covid-19-Massnahmen während der Pandemie gehen, um die Konflikte, die deswegen aufbrachen, und um mögliche Strategien zur Versöhnung.
MARK POLLMEIER
Zu Beginn verdeutlichte Pfarrer Hansruedi von Ah anhand einiger Schlaglichter, welch einschneidende Zeit die Pandemie war. Er erwähnte die geschlossenen Grenzen und die Aufrufe, zu Hause zu bleiben. Er erinnerte an den blauen Himmel, der ganz ohne Kondensstreifen blieb, weil der komplette Flugverkehr ruhte und sprach von der Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Corona beschäftige die meisten im Alltag kaum noch, so von Ah – «aber es ist vielleicht mehr passiert, als uns bewusst ist.»
Die Referentin Anaël Jambers nahm den Faden auf. Angefangen von den ersten Medienberichten im Januar 2020 liess sie das ausserordentliche erste Corona-Jahr Revue passieren. Die parallel gezeigten Bilder und Grafiken riefen vieles aus dieser Zeit wieder ins Gedächtnis.
«Die Impfdiskussionen waren schwierig»
In ihre Rückschau liess Jambers auch persönliche Erfahrungen einfliessen: wie ihre Tochter plötzlich wegen der geschlossenen Kita zu Hause war, wie sie sich mit ihrem Mann bei der Kinderbetreuung im «Schichtdienst» abwechselte, wie ihre Mutter ihre Enkelin nur noch von Ferne sehen durfte, wie der Umgang mit einer Tante zunehmend schwieriger wurde, weil diese anfing, den Kurs der Behörden äusserst kritisch zu betrachten. «Vor allem die dauernden Impfdiskussionen mit ihr waren sehr belastend», gestand Anaël Jambers und verriet bei der Gelegenheit, wie sie damit umging. «Wichtig ist, auf der Beziehungsebene den Kontakt zu halten – auch wenn es fachlich schwierig wird.»
Als Überleitung zum zweiten Teil des Abends sprach Jambers die zahlreichen Evaluationen an, mit denen die Pandemiebewältigung mittlerweile untersucht worden sei. Als Fazit könne man festhalten: «Die Schweiz hat sich im internationalen Vergleich nicht so schlecht geschlagen.» Die Evaluation der Massnahmen habe allerdings auch kritische Punkte ans Licht gebracht. Jambers nannte die Mängel bei der Digitalisierung und erinnerte daran, dass die Datenweitergabe zwischen den Behörden wochenlang per Fax abgewickelt wurde. Auch der Umgang mit besonders Schutzbedürftigen, etwa in Altersheimen, oder die Schul- und Kitaschliessungen zählte sie zu den kritischen Begleiterscheinungen der Pandemie. Schliesslich kam Jambers auf die geplanten Operationen zu sprechen, welche die Spitäler auf Anordnung der Behörden verschieben mussten. «War das sinnvoll?», fragte die Referentin. «Warum hat man diese Entscheidung nicht den Spitälern überlassen?»
«Da kommt was auf uns zu»
Nach dieser Steilvorlage wechselte Anaël Jambers auf die Bühne des Aeschiner Gemeindesaals und holte sich den zweiten Referenten Raphael Ben Nescher dazu. Der hatte in der heissen Phase der Pandemie den Corona-Sonderstab des Kantons Bern geleitet und war deshalb der perfekte Gesprächspartner für alle Fragen rund um die behördlichen Massnahmen. Anschaulich und doch nicht ohne Witz schilderte der Krisenmanager, wie die Gesundheitsdirektion – wie wohl die meisten Behörden – Anfang 2020 von der Entwicklung überrollt worden sei. «Ich hatte mich in der Gesundheitsdirektion gerade an ein gemütliches Beamtenleben gewöhnt», erzählte Ben Nescher – dann kam Corona. Nachdem man die Entwicklung in Italien beobachtet hatte, sei klar gewesen: Da kommt was auf uns zu.
Das erste Krisentreffen aller wichtigen Verantwortlichen habe dann in einem Kellergewölbe in der Berner Altstadt stattgefunden, berichtete Ben Nescher. «Die 100 wichtigsten Leute, die eine Pandemie bewältigen sollen, haben sich alle zusammen in einem fensterlosen Raum versammelt – das würde heute auch niemand mehr machen». Aber auf den Gedanken, so etwas vielleicht dezentral oder online zu machen, sei damals noch niemand gekommen.
Bald sei klar gewesen, dass ein herkömmlicher Krisenstab gar nicht in der Lage war, die Pandemie zu managen. «Diese Stäbe waren allesamt kurzfristig angelegt, für Überschwemmungen oder ähnliches. Aber hier ging es auf einmal um Monate oder Jahre.» Also richtete Gesundheitsdirektor Schnegg einen Sonderstab ein, und Raphael Ben Nescher wurde dessen Leiter.
Ein Auftrag ohne Erfahrungswerte
Dieser Krisenstab war fortan mit Herausforderungen konfrontiert, an die bisher niemand gedacht hatte – und die deswegen auch nicht immer optimal bewältigt wurden. Ben Nescher erwähnte das Contact Tracing, das in der Theorie eine sinnvolle Sache ist. Faktisch sei das Kantonspersonal mit der Nachverfolgung der Infektionsketten heillos überfordert gewesen – und die Erkrankten ebenso. «Wenn mich jemand fragt, wo warst du vor 14 Tagen, dann weiss ich das doch nicht mehr!» Ben Nescher sparte auch nicht mit Kritik am Bundesamt für Gesundheit (BAG). Angesichts des sehr aufwändigen Contact Tracings habe er dort einmal nachgefragt, was das BAG denn mit all den erhobenen Daten mache. «Das schaut doch niemand mehr an», so die lapidare Antwort. Trotzdem sei der Kanton kritisiert worden, man müsse das Contact Tracing besser machen.
Eine zweite riesige Herausforderung sei dann das Impfen gewesen. Ben Nescher beschrieb, wie man hektisch auf die Suche ging nach Kühlmöglichkeiten, die eine Temperatur von minus 70 Grad sicherstellten – denn solche Bedingungen brauchten die ersten Impfstoffe. «Dann mussten wir eine Software entwickeln, mit der man erfassen konnte, wer schon geimpft ist.» Normalerweise würden Behörden Jahre brauchen, um so etwas zu entwickeln – «wir mussten es in wenigen Wochen schaffen.»
Ständiger Entscheidungsdruck
Dieses wahnsinnige Tempo sei ein Merkmal der frühen Pandemie gewesen, und das habe natürlich Probleme mit sich gebracht. «Wir hatten zum Beispiel gar nicht immer die Leute, um alle Dinge zeitnah umzusetzen.»
Der Entscheidungsdruck sei sicher auch dafür verantwortlich, dass manches nicht ganz durchdacht worden sei – etwa die Einreisekontrollen. Die habe man gar nicht so durchführen können, wie es eigentlich gefordert war, «die Vorgaben haben teilweise absurde Züge angenommen.» Irgendwann sei man dazu übergegangen, nach Augenmass zu entscheiden. «Manches war mir irgendwann gleich», gab Ben Nescher zu. Insgesamt befand aber auch er, die Schweiz sei im Vergleich nicht schlecht durch die Pandemie gekommen. In anderen Ländern, die teilweise deutlich schärfere Massnahmen hatten, sei es auch nicht besser gelaufen, eher im Gegenteil.
Nicht gehaltene Versprechen
Ben Nescher gestand aber ein, dass manches Behördenversprechen nicht gehalten wurde. Sämtliche Massnahmen sollten aufgehoben werden, wenn erst einmal alle, die es wollen, geimpft sind, hatte es geheissen – und dann dauerte es doch deutlich länger. «Auch das Zertifikat sollte erst nicht kommen – und dann kam es doch.»
Hier hakte Anaël Jambers ein und fragte nach dem Recht auf Widerstand während der Pandemie. Ben Nescher verwies auf den Rechtsstaat. Solange dieser funktioniere, man also mit seiner Beschwerde Gehör finde und ein Gericht anrufen könne, solange gebe es kein Recht, Widerstand zu leisten. Der Referent wies darauf hin, dass die Corona-Politik der Behörden jeweils vom Volk legitimiert worden sei. Er sprach sich aber dafür aus, kleinere Widerstände – etwa den «regelwidrigen» Besuch der Grossmutter – nicht zu kriminalisieren. Manche dieser Regelverstösse habe er für nachvollziehbar und legitim gehalten.
«Das hat mich erschüttert»
Im dritten Teil des Abends kam das Publikum zu Wort. Bemängelt wurde etwa die teilweise schlechte Kommunikation der Behörden, gerade in Sachen Impfung, und dass die Hausärzte und mit ihrer Erfahrung nicht stärker einbezogen wurden. Viele kritisierten die Hysterie und Angstmacherei von Behörden und Medien. Auch konkrete Massnahmen wie «2G» wurden infrage gestellt. Raphael Ben Nescher verwies noch einmal auf den enormen Druck, der zeitweise allein von den Infektionszahlen ausgegangen sei und der die Behörden unter Zugzwang gesetzt habe. «Gerade am Anfang herrschte doch Überforderung auf allen Stufen», pflichtete ihm ein Besucher bei. «Wir sollten in der Rückschau nicht alles nur negativ sehen.» Er habe nicht den Eindruck, dass die Behörden die besondere Situation hätten ausnutzen wollen.
Mehrere Besucher sprachen die erbittert geführten Meinungsverschiedenheiten an, die – teils in der Familie und im Freundeskreis – geführt wurden. «Das hat mich erschüttert», so eine Teilnehmerin. «Zum Glück leben wir in einem Land, in dem man verschiedene Meinungen haben kann!», sagte Anaël Jambers und erneuerte ihr Votum vom Anfang. Es sei letztlich wie in der Diplomatie: Auf der Sachebene dürfe man heftig streiten – «aber auf der Beziehungsebene muss Respekt möglich bleiben.»
DIE REFERENTEN
Anaël Jambers,
Jahrgang 1986, ist Ethnologin und Mediatorin, Bibelwissenschaftlerin, Co-Präsidentin der EVP Muri-Gümligen und Vorstandsmitglied der Bewegung Courage Civil, die sich für Grundrechte und Medienvielfalt einsetzt. Jambers verfügt als Mediatorin über mehrjährige Erfahrung im Ausland (Myanmar, Pakistan, Marokko Thailand). Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz gründete sie die Trijalog Mediation und Transformation GmbH.
Raphael Ben Nescher,
geboren 1986, arbeitete im Generalsekretariat der bernischen Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI), als die Pandemie ausbrach. Vom Frühjahr 2020 an leitete er zwei Jahre lang den Sonderstab Corona des Kantons Bern. Heute ist er Leiter Stab im Amt für Integration und Soziales. Ben Nescher hat Politik-, Rechtsund Informationswissenschaften studiert. Seine Masterarbeit schrieb er über das Widerstandsrecht.
POL