Kranke Krankenhäuser
13.09.2024 GesundheitDie Schweizer Spitallandschaft steuert auf ein finanzielles Desaster zu. Schon jetzt muss die öffentliche Hand vielerorts Rettungsschirme aufspannen, um Kliniken mit Krediten oder Bürgschaften zu retten. Ein Umbau des heutigen Systems scheint unvermeidlich. Die Frage ist, in ...
Die Schweizer Spitallandschaft steuert auf ein finanzielles Desaster zu. Schon jetzt muss die öffentliche Hand vielerorts Rettungsschirme aufspannen, um Kliniken mit Krediten oder Bürgschaften zu retten. Ein Umbau des heutigen Systems scheint unvermeidlich. Die Frage ist, in welche Richtung es gehen wird.
MARK POLLMEIER
Am 11. Juni tat der Kanton Bern etwas, das eigentlich gar nicht vorgesehen ist: Er legte 100 Millionen Franken zur Seite, um im Notfall ein öffentliches Spital retten zu können.
Der Beschluss war keine Vorsorgemassnahme, sondern dringend nötig. Die Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) Bern seien ohne staatliche Hilfe nicht mehr zu retten, hatte Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg zuvor ausgeführt.
Statt 10 nicht einmal 5 Prozent Marge
Dass die öffentliche Hand den Spitälern massiv Geld zuschiessen muss, ist finanzpolitisch eigentlich ein Sündenfall. Im Jahr 2012 hatte man die neue Spitalfinanzierung eingeführt. Sie verlangt, dass die öffentlichen Spitäler nicht nur ihren laufenden Betrieb aus eigener Kraft finanzieren müssen, sondern auch die nötigen Investitionen in die Infrastruktur und Gebäude. Das heisst: Sie müssen profitabel sein und Gewinne erwirtschaften.
Was sich in der Theorie gut anhört, funktioniert in der Praxis ganz offensichtlich nicht. Damit ein Spital langfristig überleben kann, braucht es eine Ebitda-Marge von 10 Prozent. Ebitda bedeutet: Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen. Vereinfacht ausgedrückt: Von 100 Franken, die ein Spital einnimmt, müssen nach Abzug aller Personal- und Sachaufwendungen 10 Franken übrigbleiben – mindestens.
Doch bei vielen Spitälern ist dies nicht der Fall, viele liegen weit unter der notwendigen Marge. Vor einigen Wochen sahen sich die Wirtschaftsprüfer von KPMG die Geschäftsberichte von 48 Schweizer Spitälern unterschiedlicher Grösse an. Zusätzlich befragten sie die Finanzchefs von 26 Spitalunternehmen. Das Resultat: Die Ebitda-Marge lag und liegt im Schnitt deutlich unter fünf Prozent.
Millionen von der öffentlichen Hand
Die Folge: Die Spitäler schreiben Verluste. Im gesamten Kanton Bern gab es 2023 nur ein einziges Spitalunternehmen, das keine roten Zahlen auswies: Die Spitäler fmi AG schlossen das Geschäftsjahr mit einem kleinen Gewinn ab. Doch auch die fmi AG war zuletzt nicht profitabel genug. Zwar konnte das Unternehmen 3,2 Prozent mehr Umsatz generieren. Die Ebitda-Marge lag mit 5,9 Prozent jedoch deutlich unter dem Zielwert. Zum Vergleich: Die in Not geratenen Universitären Psychiatrischen Dienste hatten 2023 eine Ebitda-Marge von –10,6 Prozent.
Die Spitäler im Kanton Bern sind keine Ausnahme. Auch in anderen Kantonen wurden zuletzt fleissig Rettungsschirme aufgespannt, und oft stehen dahinter dreistellige Millionenbeträge. Allein für das Kinderspital Zürich musste der Kanton 285 Millionen Franken locker machen, die Kantone St. Gallen und Freiburg stützten ihre Spitäler mit jeweils fast 170 Millionen. Hinzu kommen zahlreiche kleinere Rettungsaktionen – wobei «klein» hier bedeutet, dass sechsoder siebenstellige Beträge fliessen. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis weitere Spitäler bei «ihren» Kantonen anklopfen werden.
Allerdings gibt es Fälle, in denen auch der Staat nicht mehr «spontan» helfen kann. Die Berner Inselgruppe hat allein im Jahr 2023 einen Verlust von fast 113 Millionen Franken eingefahren. Für solche Dimensionen wäre selbst der 100-Millionen-Rettungsschirm des Kantons zu klein – die Rettung der Insel müsste als eigenes Geschäft durchs Parlament.
Wer ist Schuld an der Misere?
Die Frage ist, wie es nun weitergeht. Auch die solide geführte fmi AG prognostiziert fürs laufende Geschäftsjahr einen Verlust, anderen Spitälern wird es ebenso ergehen. Die ausserordentlichen Rettungsaktionen des Staates könnten in den kommenden Jahren also Normalität werden. Damit wäre genau das eingetreten, was die Politik vermeiden wollte. Was aber sind die Gründe für die flächendeckende Misere?
Bei einigen Spitälern oder Spitalgruppen sind die Probleme wohl hausgemacht. Sie hätten in überrissene Neubauten investiert, die nun abbezahlt werden müssen, kritisiert etwa Preisüberwacher Stefan Meierhans. Dabei würden Eingriffe immer häufiger ambulant und nicht stationär vorgenommen.
Ronald Alder, stellvertretender Geschäftsleiter beim Verband Zürcher Krankenhäuser, macht dagegen die Teuerung für die finanzielle Schieflage verantwortlich. Material, Energie und Personal seien teurer geworden. Manche Investitionen, etwa in die IT-Infrastruktur, seien nicht aufschiebbar. Weil die Spitäler aber an Tarife gebunden seien, könnten sie nicht einfach die Preise erhöhen, wie das auf einem wirklich freien Markt passieren würde. Die Folge: Viele Spitäler arbeiten nicht mehr kostendeckend. Alder fordert deshalb, dass die Fallpauschalen und Taxpunkte – beide zusammen bestimmen den «Preis» einer Behandlung – erhöht werden.
Höhere Tarife als Ausweg?
Auch der letzte fmi-Geschäftsbericht beklagt, dass die verrechenbaren Tarife mit der «kritischen Kostenentwicklung» nicht Schritt halten würden. Vor allem im ambulanten Bereich sei bereits seit Jahren kein kostendeckendes Arbeiten mehr möglich. Vor diesem Hintergrund wünschen sich der fmi-Verwaltungsrat und die Geschäftsleitung von Politik und Behörden «eine nachhaltige Verbesserung der Rahmenbedingungen, insbesondere der Tarife und Vorgaben», heisst es im Geschäftsbericht.
Doch ob die Tarife zugunsten der Spitäler erhöht werden, ist mehr als fraglich. Ende September wird Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider über die Krankenkassenprämien 2025 informieren – und in den meisten Kantonen wird es wohl auf eine weitere Erhöhung hinauslaufen. Die Chance, dass die Spitäler in den Tarifverhandlungen mehr Geld herausholen, ist also gering. Man will die Versicherten nicht noch mehr belasten. Was aber könnte sonst helfen?
Neuordnung der Versorgungsregionen
Am ehesten wird es auf einen politisch gesteuerten Umbau der Spitallandschaft hinauslaufen. Verschiedene Entwicklungen laufen derzeit parallel. Der Kanton Bern ist dabei, die Versorgungsregionen der Spitäler zu vergrössern. Statt sechs soll es künftig nur noch vier Versorgungsregionen geben. Die Leistungserbringer einer Region – neben Spitälern auch Hausärzte, Gesundheitszentren oder die Spitex – sollen ihr Angebot aufeinander abstimmen und besser kooperieren. Je allgemeiner eine Leistung ist und je häufiger sie in Anspruch genommen wird, desto wohnortnäher soll sie erbracht werden. Für spezialisierte Leistungen müssen dagegen weitere Wege in Kauf genommen werden. Wann immer möglich, soll der Grundsatz «ambulant vor stationär» zum Tragen kommen.
Die Gesundheitsdirektion betont, dass es bei diesem Modell nicht darum gehe, Spitalstandorte zu schliessen. Aber die bessere Vernetzung und ein sinnvoller Einsatz der Ressourcen soll dazu beitragen, Doppelspurigkeiten zu vermeiden und die Kosten zu reduzieren.
Schwierige Mehrfachrolle
Auch auf nationaler Ebene ist die Politik durch die Hiobsbotschaften aus der Spitallandschaft aufgeschreckt worden. Im Parlament sind rund ein Dutzend Vorstösse hängig. Eine der diskutierten Ideen ist nicht neu und nimmt die Spitalplanung ins Visier. Die liegt heute bei den Kantonen – was manche Parlamentarier kritisieren.
Ein Kanton sei bei der Spitalplanung immer in einem Interessenskonflikt, so die Argumentation. Er bestelle und reguliere die Leistungen, sei für die Tarifgestaltung zuständig, verwalte die öffentlichen Finanzen und sei oft auch noch Eigentümer der öffentlichen Spitäler – eine hinderliche Rollenvielfalt. Die Spitalplanung gehöre deshalb in die Hand des Bundes. Der könne dann auch die Zusammenarbeit der Kantone forcieren, die in der Spitalplanung derzeit zu kurz komme. Nicht jeder Kanton müsse zum Beispiel eine hoch spezialisierte Medizin anbieten.
Kritik am Kantönligeist
Tatsächlich geben die Kantone bei der eigentlichen geforderten Zusammenarbeit nicht immer eine gute Figur ab. In der Ostschweiz versuchten sechs Kantone jahrelang, sich auf eine Konzentrierung der komplexeren Spital-Operationen zu verständigen. Doch man wurde sich einfach nicht einig. Schliesslich zogen sich der Thurgau, Glarus und Graubünden aus dem Projekt zurück. Der Streit entzündete sich an den Mindestfallzahlen. Dabei ging es darum, dass ein Spital einen gewissen Eingriff nur noch anbieten darf, wenn es auf eine jährliche Mindestzahl kommt. Viele kleinere Spitäler, wie sie zum Beispiel in Graubünden stehen, hätten dabei das Nachsehen gehabt. Die Verhandlungen platzten, übrig blieben St. Gallen und die beiden Appenzell.
Wegen genau solcher Beispiele fordern nationale Politiker, den Kantonen die Planungskompetenz in der Spitalpolitik zu entziehen. Mittlerweile ist sogar ein Tabuthema wieder diskussionsfähig: die Zahl der Spitäler in der Schweiz.
Schliessungen nicht ausgeschlossen
Heute gibt es hierzulande 100 allgemeinmedizinische Kliniken – gemäss Experten eine sehr hohe Dichte. Unter dem wachsenden finanziellen Druck stellt sich die Frage, ob es wirklich jede davon braucht. Die Antwort der Politik lautet immer öfter: nein.
Aktuell droht dem Spital Wetzikon (ZH) die endgültige Schliessung. Das Unternehmen ist in Nachlasstundung; es fehlen 170 Millionen Franken, der weit fortgeschrittene Neubau steht still. Der Kanton Zürich hat in diesem Fall keinen Rettungsschirm aufgespannt. Wetzikon sei nicht systemrelevant, so die Begründung. Weniger als zehn Kilometer entfernt stehe ja das Spital Uster.
Es ist eine Tatsache, die in den Spitaldiskussionen gern vergessen geht: Im heutigen System kann ein Kanton ein öffentliches Spital auch einfach pleitegehen lassen. Eine Verpflichtung, angeschlagene Häuser zu retten, gibt es nicht.