Krieg raubt die Kindheit
15.07.2025 Kolumne30 Grad, die Aare glitzert, Boote treiben voraus. Familien lachen, Kinder schwingen sich am Hängeseil ins Wasser. Am Ufer tropft Glace auf die Handtücher. Ein Sommertag, wie er sein soll: leicht, friedlich, warm.
Während ich in meinem Aareböötli ...
30 Grad, die Aare glitzert, Boote treiben voraus. Familien lachen, Kinder schwingen sich am Hängeseil ins Wasser. Am Ufer tropft Glace auf die Handtücher. Ein Sommertag, wie er sein soll: leicht, friedlich, warm.
Während ich in meinem Aareböötli die Sonnenstrahlen auf dem Rücken geniesse, spült mich eine Erinnerung zurück: Ich war als Kind oft in der Ukraine, habe auch dort gewohnt, später habe ich jedes Jahr Sommerlager für Kinder und Jugendliche besucht und mitgestaltet. Zählt man alle Wochen zusammen, habe ich fast zwei Jahre meines Lebens in der Ukraine verbracht.
Eines meiner liebsten Erlebnisse im Sommerlager: Die Ausflüge auf dem Fluss Lubich mit den grossen Rafting-Booten. Es gab eine Jungs- und eine Mädchengruppe und wir paddelten wie die Weltmeister den Fluss runter. Die Gruppe, die den Ausstieg zuerst erreichte, durfte sich bis am Ende des Tages zur Gewinnertruppe krönen lassen. Das Wasser war zwar nie so sauber wie in der Aare, zum Paddeln und Abkühlen jedoch perfekt. Wir trieben den Fluss hinunter, sprangen ins Wasser und hörten Musik.
Solch ein Ausflug liegt für mich mittlerweile vier Jahre zurück. Seitdem ist alles anders. Der Krieg in der Ukraine hat überhandgenommen. Einige meiner Kollegen, die sich nach ihrem 18. Geburtstag freiwillig für die Armee gemeldet haben, opferten ihr Leben an der Front. Für den Bekanntenkreis starben sie als Helden. Andere mussten ihr Zuhause verlassen, wohnen jetzt verstreut in der Welt, manche auch hier im Frutigland.
Der grossflächige Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine ist heute genau 3 Jahre, 4 Monate und 21 Tage her – und auch wenn der Krieg in den Medien hauptsächlich nicht mehr auf der Titelseite abgedruckt wird, geht er immer noch tagtäglich weiter. Der Krieg zerstört nicht nur Zukunftspläne, Karrieren und Häuser, sondern auch die Sorglosigkeit ganz vieler Kinder, die nach wie vor dort leben – er stiehlt ihnen die unbeschwerten Tage. Anstatt auf dem Lubich zu paddeln, harren sie in Kellern aus, bis der nächste Luftalarm verstummt. Auch in den momentan sichereren Regionen des Landes mit wenig Stromausfällen und Raketenangriffen sind Zeltlager und Lagerfeuer nicht möglich. Das Risiko wäre schlicht zu hoch und ausserdem würde das Geld woanders gebraucht.
Ich wünschte, das wäre anders. Ich wünschte, jedes dieser Kinder könnte seine Ukraine so erleben, wie ich sie erleben durfte: mit nassen Haaren, lachend auf einem Fluss, alle Freunde rundherum, ohne Angst vor dem nächsten Morgen.
Leider bleibt es momentan beim Wünschen, Hoffen und Beten für diese Kinder. An den Fakten, dass es so ist, kann ich nichts ändern. Aber ich kann mich erinnern. Reflektieren. Erzählen. Erzählen, dass der Krieg nicht vergessen werden darf – dass wir nicht wegschauen dürfen, bis das Grauen vorbei ist.
Genau das ist es, was ich am Frutigland so schätze – viele Menschen schauen nicht einfach nur zu. Auch wenn wir unsere Berge bewundern, die Aare geniessen und uns sicher fühlen dürfen: Viele öffnen ihre Häuser, spenden Geld, teilen, laden Familien ein, nehmen Kinder mit ins Freibad, zum Spielen, zum Durchatmen. Vielleicht ist das keine Rettung der ganzen Welt, aber es ist ein kleiner, heller Teil davon. Ein bisschen Unbeschwertheit zurückgeben, dort, wo so viel geraubt wurde. Ich habe dadurch ganz fest zu schätzen gelernt, was für mich lange selbstverständlich war. Und doch schlummert in mir die grosse Sehnsucht, bald wieder mit meinen Freunden den Lubich hinunter zu paddeln – noch einmal Kind sein zu dürfen.
SARAH WNUK SARAHWNUK@GMX.CH
REDAKTION@FRUTIGLAENDER.CH