Kritik an den Behörden
23.09.2022 FrutigenZum wiederholten Mal wird in Kanderbrück um ein Bauvorhaben gestritten. Die Situation ist verfahren, happige Vorwürfe stehen im Raum. Bürger werfen der Gemeinde vor, sich nicht an den eigenen Richtplan zu halten – und in manchen Fällen sogar gesetzeswidrig zu ...
Zum wiederholten Mal wird in Kanderbrück um ein Bauvorhaben gestritten. Die Situation ist verfahren, happige Vorwürfe stehen im Raum. Bürger werfen der Gemeinde vor, sich nicht an den eigenen Richtplan zu halten – und in manchen Fällen sogar gesetzeswidrig zu entscheiden. Handelt es sich lediglich um ein Kommunikationsproblem, um Missverständnisse? Oder legt die Gemeinde das Baurecht tatsächlich nach Gutdünken aus? Der «Frutigländer» hat mit Beteiligten gesprochen – und stiess auf völlig unterschiedliche Sichtweisen.
MARK POLLMEIER
1. Der Einsprecher
Seit rund fünf Jahren kämpft Toni Reichen mit den Behörden um die Rechtmässigkeit verschiedener Bauprojekte in Kanderbrück. Jüngstes Beispiel ist ein Mehrfamilienhausprojekt im Guggigässli, an dem als Bauherr unter anderem die Firma Grobau Grossen & Co. beteiligt ist, die Gemeinderat Markus Grossen (Ressort Hochbau) gehört.
Nachdem das Vorhaben Anfang Juli im «Frutiger Anzeiger» publiziert worden war, ging beim Regierungsstatthalteramt eine Sammeleinsprache ein, an der sich über 30 BürgerInnen beteiligten, unter ihnen auch Toni Reichen.
Schon einige Wochen früher, nämlich Mitte Mai, hatte die Firma Grobau einen vorzeitigen Baubeginn beantragt und bekam Mitte August auch die Bewilligung dafür. Ein paar Tage später wurde auf der Bauparzelle an der Ecke Guggigässli Ecke Tellenfeldgässli gebaggert (siehe Foto). Genau daran entzündete sich erneut ein Streit darüber, ob hier alles mit rechten Dingen zuging.
Informieren oder nicht?
Die Rechtslage besagt, dass eine vorzeitige Bewilligung nicht publiziert werden muss. Die Frage ist aber: Hätte man die Einsprecher darüber informieren müssen? Toni Reichen und andere Einsprecher sind der Meinung: Ja, das hätte man tun müssen! Reichen weist auf die Rechtsmittelbelehrung hin, die unter der Bewilligung der Gemeinde steht: Anfechtbar innert 30 Tagen bei der Baudirektion des Kantons Bern. «Aber wie sollen wir eine Einsprache gegen einen Entscheid machen, wenn wir gar nichts davon wissen?», fragt Reichen verärgert.
Es ist nicht das erste Mal, dass ihn diese Frage beschäftigt. Schon zwei Jahre zuvor gab es im Rahmen eines anderen Bauprojekts eine ganz ähnliche Situation. Die Gemeinde stellte eine vorzeitige Baubewilligung aus, und weil Einsprecher Reichen gar nichts davon mitbekam, verstrich die Einsprachefrist – der Entscheid wurde rechtskräftig.
Nach diesem Vorfall fragte Toni Reichen im Regierungsstatthalteramt nach, ob man ihn denn nicht hätte informieren müssen. Im September 2020 nahm der stellvertretende Regierungsstatthalter Manuel Stettler zu dieser Frage Stellung. Nach seiner allgemeinen Einschätzung, so schrieb Stettler in seiner E-Mail, müsste eine solche Verfügung allfälligen Einsprechern ebenfalls eröffnet, also per Post zugestellt werden. Passiert ist das auch beim aktuellen Bauprojekt im Guggigässli nicht. Trotzdem lief es diesmal anders. Zufällig erfuhren die Einsprecher von den bevorstehenden Arbeiten – und konnten deshalb fristgerecht Beschwerde bei der kantonalen Baudirektion einlegen. Diese reagierte prompt: In einer schriftlichen Verfügung weist das Rechtsamt der Direktion darauf hin, dass die Aushubarbeiten nicht fortgeführt werden dürfen.
Toni Reichen und seine Mitstreiter sehen sich durch das Schreiben der Baudirektion darin bestätigt, dass hier (erneut) nicht alles sauber gelaufen ist. Ihr Verdacht: Die vorzeitigen Baubewilligungen würden, sobald sie von der Gemeinde erteilt wurden, rasch in einer Schublade verschwinden, sodass niemand dagegen vorgehen kann. Währenddessen beginne der Bauherr mit den Arbeiten und schaffe auf diese Weise Fakten.
Die drei nicht bewiligten Parkplätze
Es gibt noch mehr Beispiele, die Toni Reichens Sichtweise bestätigen. 2018 beantragte Markus Grossen im Rahmen eines anderen Bauprojekts die Errichtung mehrerer Parkplätze, darunter drei Aussenparkplätze am Aussenmatteweg. Sie wurden von der Gemeinde bewilligt. Nach einer Beschwerde entschied aber die Baudirektion des Kantons Bern, dass die drei Aussenparkplätze nicht bewilligungsfähig seien, und erteilte einen Bauabschlag.
Das hielt die Frutiger Bauverwaltung nicht davon ab, einige Monate später einen neuen Versuch zu starten. Nachdem die Parkplätze teilweise einer anderen Liegenschaft zugeordnet worden waren, erhielt Bauherr Markus Grossen von der Gemeinde Frutigen erneut eine Baubewilligung, so berichtet es Toni Reichen. Begründet wurde der positive Entscheid unter anderem mit dem akuten Parkplatzmangel im Quartier.
Auch diese neue Baubewilligung wurde mittels Beschwerde angefochten, und wieder landete der Fall bei der Baudirektion. Die jedoch sah keinen Grund, über die schon einmal abgelehnten Parkplätze anders zu entscheiden als zuvor. Im Juni 2022 wurde der Beschwerde stattgegeben – keine Bewilligung für die Parkplätze.
Was ist mit dem Richtplan?
Aus Toni Reichens Sicht ist auch diese Geschichte ein Beleg dafür, dass auf der Frutiger Bauverwaltung, wie er es empfindet, «getrickst» wird. Er habe wirklich nichts dagegen, dass in Kanderbrück gebaut werde, beteuert er. Ihn störe aber die Vorgehensweise.
Die Gemeinde habe seit 2012 einen gültigen Richtplan zur Erschliessung und Nutzung der Ortsteile Widi und Kanderbrück. Reichen wirft dem Gemeinderat vor, dass dieser Richtplan seit Jahren nicht oder nur in Ansätzen umgesetzt wird. Zwar würden grössere Bauvorhaben bewilligt – häufig zugunsten von Markus Grossen. Die im Richtplan definierten Verkehrserschliessungsmassnahmen, die eigentlich vor einer solchen Bautätigkeit erfolgen müssten, habe man dagegen weitgehend unterlassen – obwohl der Richtplan vom Gemeinderat beschlossen wurde und klar behördenverbindlich sei. Manche Anwohner betrachten dieses Vorgehen inzwischen als Methode.
Die Gärtnerei und der Mehrverkehr
Um Bauprojekte durchzubringen, biege sich die Gemeinde manchmal sogar die Realität zurecht, kritisiert Toni Reichen. Er zeigt eine Stellungnahme der Frutiger Bauverwaltung zu einem – ebenfalls umstrittenen – Projekt im Tellenfeldgässli. Dort, wo nun gebaut werden soll, sei «bis vor Kurzem» eine aktive Gärtnerei gewesen, heisst es in dieser Stellungnahme. «Die Gärtnerei am selben Standort hatte mindestens so viel Verkehr verursacht, wie nun das Wohnbauprojekt verursachen wird.» Übersetzen muss man das so: Weil die Gärtnerei mittlerweile weg ist, entsteht durch das Bauprojekt effektiv gar kein Mehrverkehr im Quartier.
Reichen und andere Einsprecher schütteln angesichts dieser Argumentation den Kopf. Keiner mag sich erinnern, wann der zitierte Gärtnereibetrieb zum letzten Mal nennenswerten Verkehr verursacht hat. «Wann soll das gewesen sein? Vor zwanzig Jahren?»
2. Die Bauverwaltung
Nach so vielen Vorwürfen ist eine Nachfrage bei der Gemeinde Frutigen fällig. Wird auf der Bauverwaltung systematisch getrickst, damit kritische Bauprojekte bewilligungsfähig werden? Hält sich die Gemeinde nicht an den eigenen Richtplan?
Bauverwalter Peter Wenger sieht das alles ganz anders. Ja, sagt Wenger, ein Richtplan sei behördenverbindlich. «Aber für die Umsetzung der Massnahmen haben die damals Verantwortlichen bewusst grössere Zeitfenster definiert.» Gemäss Richtplan bewege man sich im Bereich Guggigässli / Tellenfeldgässli noch innerhalb der 2012 gesetzten Zeitfenster.
Wenger weist auf einen weiteren Punkt hin: «Bei der konkreten Umsetzung von Ausbauplänen muss am Ende der Stimmbürger grünes Licht geben.» Sprich: Neben einer Bewilligung, ob Bau- oder Überbauungsordnung, müssen die nötigen Kredite ohnehin erst einmal vom Volk genehmigt werden, bevor eine Massnahme umgesetzt werden kann – Richtplan hin oder her.
Automatischer Marschhalt
Auch bei der vorzeitigen Baubewilligung im Guggigässli kann Wenger keinen Fehler der Gemeinde erkennen. Mit dem frühen Beginn der Arbeiten würden ja gerade keine Fakten geschaffen, so der Bauverwalter. «Wenn das gesamte Vorhaben nicht bewilligt wird, muss der Bauherr das Grundstück auf eigene Kosten wieder in den Ursprungszustand versetzen.» Er selbst ist jedoch überzeugt davon, dass dies nicht passieren wird, weil das Mehrfamilienhausprojekt am Ende bewilligt wird und realisiert werden kann.
Wenger präzisiert bei der Gelegenheit, dass die Baudirektion im Guggigässli keinen «Baustopp» verfügt habe. «Es gab eine Beschwerde, und in solchen Fällen ruhen die Arbeiten automatisch», erklärt der Bauverwalter. «Aufschiebende Wirkung» heisst der Effekt im Amtsdeutsch. Damit sei im Übrigen auch noch nicht gesagt, ob die vorzeitige Bewilligung rechtens war oder nicht. Auch darüber wird nun die Baudirektion entscheiden, was einige Zeit dauern könne.
Verschiedene Expertenmeinungen
Bleibt die Frage, ob man die Einsprecher über die vorzeitige Bewilligung nicht hätte informieren müssen – so, wie es offenbar Manuel Stettler vom Regierungsstatthalteramt sieht.
Die Informationspflicht sei im Baurecht nicht abschliessend geklärt, so Wengers Einschätzung. In seinen Augen ist eine Information an die Einsprecher in solchen Fällen nicht nötig. «Es ging im Guggigässli ja gar nicht um Aushub und schon gar nicht um vorzeitige Betonarbeiten und dergleichen, sondern lediglich um das Abtragen der obersten Erdschicht», erläutert Wenger den konkreten Fall. Streng genommen hätte Markus Grossen als Bauherr die Vorarbeiten sogar ohne vorzeitige Bewilligung in Angriff nehmen dürfen, weil es um vergleichsweise geringe Eingriffe ging, so Wenger. «Das Baugesetz definiert, dass im Baugebiet Terrainveränderungen von höchstens 100 Kubikmetern und einer maximalen Höhe von 1,2 Meter einmalig bewilligungsfrei sind.»
Verbreiteter Parkplatzmangel
Was aber ist mit den laut Baudirektion nicht bewilligungsfähigen Parkplätzen, die vom Regierungsstatthalteramt und der Bauverwaltung trotzdem je einmal bewilligt wurden? Peter Wenger bestätigt, dass die Gemeinde in diesem Fall unterlegen sei. Die Baudirektion lege das Baurecht hier eben sehr strikt aus. «Wenn ich das in Frutigen so machen würde, wären vermutlich ziemlich viele Parkplätze nicht rechtskonform», so Wenger. In Kanderbrück seien Stellplätze für Autos wie generell auf dem Land ein sehr knappes Gut. Die Frutiger Baupolizeibehörde versuche deshalb, mit Augenmass zu entscheiden. «Bei einem Mehrfamilienhaus müssen die Besucher ja irgendwo ihr Auto abstellen können.»
Kontrollblick von aussen
Also keine Mauscheleien auf der Bauverwaltung, kein Zurechtbiegen der Realität? Peter Wenger verneint solche Vorwürfe vehement. Es gebe keinen einzigen Entscheid, den er als Bauverwalter nicht rechtlich vertreten könne, betont er. «Das würde auch gar nicht funktionieren.» Es gebe schliesslich auch noch Behörden, die der Bauverwaltung auf die Finger schauen würden. Und es sei nicht so, dass man diesen Institutionen einfach irgendetwas vormachen könne. Wenger nennt als Beispiel den Oberingenieurkreis, der bei der Einschätzung der Verkehrsverhältnisse ein gewichtiges Wort mitzureden hat. «Sie können sicher sein, dass da nicht einfach vom Schreibtisch aus entschieden wird», so Wenger. «Im Zweifel fragen die Amtsstellen nach oder schicken jemanden raus, der sich sich die Verhältnisse vor Ort anschaut.»
Bleibt noch die Gärtnerei, die von den Einsprechern als Scheinargument betrachtet wird. Der Gärtnereibetrieb sei nur ein Punkt unter mehreren gewesen, sagt Wenger. «Der war sicher nicht matchentscheidend», so seine Einschätzung. «Aber auch hier hat ja die Baudirektion das vorläufig letzte Wort. Schauen wir doch, wie sie das beurteilt.»
3. Der Gemeinderat
Die aktuellen Behördenmitglieder sind für die Verzögerungen beim Richtplan Widi-Kanderbrück nur zum Teil verantwortlich – genehmigt wurde dieser bereits 2012. Seitdem hat nicht nur das Personal im Gemeinderat gewechselt, auch auf der Frutiger Bauverwaltung gab es mehrere Veränderungen, vor allem im Bereich Tiefbau, Verkehr, Wasserbau.
Der aktuelle Gemeinderatspräsident Hans Schmid hat in der Vergangenheit mehrfach eingeräumt, dass man beim Richtplan in einigen Bereichen im Verzug sei, aber bestrebt, vorwärtszumachen und die beschlossenen Massnahmen umzusetzen.
Im März 2022 informierte der Gemeinderat via Bulletin, dass die Kommission Tiefbau, Verkehr und Wasserbau die Prioritäten für den genannten Richtplan neu beurteilt und entsprechende Anträge an den Gemeinderat gestellt habe. Laut dieser Medieninformation hat der Gemeinderat den Anträgen bereits zugestimmt. Um welche Massnahmen es sich dabei konkret handelt, wurde der Öffentlichkeit bisher jedoch nicht mitgeteilt.
Änderungen geringfügig
Das kantonale Amt für Gemeinden- und Raumordnung (AGR) informierte auf Anfrage, dass ihm der Protokollauszug der Gemeinderatssitzung vom 10. März 2022 vorliege. Im Mai habe die Gemeinde das AGR dann konsultiert und um eine Einschätzung gebeten, ob die beschlossenen Änderungen des Richtplans als geringfügig gewertet werden können. Das AGR bestätigte diese Einschätzung, empfahl der Gemeinde aber, «wie in solchen Fällen nicht unüblich, vorgängig ein freiwilliges Mitwirkungsverfahren durchzuführen».
Ob und wann die Einwohnergemeinde Frutigen ein solches Mitwirkungsverfahren anstrebt, war beim Gemeinderat bislang nicht in Erfahrung zu bringen.