Künstliche Intelligenz: Fluch und Segen
07.10.2025 GesellschaftDer Nationalrat wolle «der künstlichen Intelligenz Zügel anlegen», titelte am 16. September die Online-Ausgabe des SRF. Die Information stimmt, aber ist das umsetzbar? Eine Herausforderung für die Schweizer Politik.
MARTIN NATTERER
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Der Nationalrat wolle «der künstlichen Intelligenz Zügel anlegen», titelte am 16. September die Online-Ausgabe des SRF. Die Information stimmt, aber ist das umsetzbar? Eine Herausforderung für die Schweizer Politik.
MARTIN NATTERER
Der Nationalrat hat am 16. September 2025 gleich zwei Vorstösse im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz angenommen. Der eine Vorstoss verlangt, dass der Bundesrat eine Strategie gegen Deepfake-Pornos und Sextortion (Erpressung mit intimen Fotos oder Videos), namentlich zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, ausarbeiten soll.
Der zweite Vorstoss, den die grosse Kammer gutgeheissen hat, will, dass journalistische und andere urheberrechtlich geschützte Inhalte vor missbräuchlicher Nutzung durch Anbieter künstlicher Intelligenz geschützt werden. Weil die vorberatende Kommission den Text beider Vorstösse angepasst hat, gehen sie noch einmal zurück an den Ständerat. So weit, so kompliziert. Denn auch die Schweiz steht mitten in einer Revolution, deren Ursachen, Methoden und Folgen sie zu regeln versucht. Zweifellos: Die Künstliche Intelligenz, erhitzt und erregt die Gemüter – zu Recht. Sie wird als Bedrohung empfunden, als Fluch sogar, aber auch als Segen.
Grosse Chancen – grosse Risiken
Von ungeheuren Chancen ist die Rede, vor allem vonseiten derer, die KI-Modelle und KI-gestützte Programme und Methoden anbieten und verkaufen. Viele schätzen den praktischen Nutzen zum Beispiel von ChatGPT oder des KI-Assistenten «Copilot» in Microsoft. In den verschiedenen Internetbrowsern und auf den meisten Handys sind sie zum Teil schon fest eingebaut.
Aber auch von grossen Bedrohungen wird gesprochen – nicht nur der Arbeitsplätze, sondern gar der gesamten Menschheit –, wie schon 2014 der berühmte englische Physiker Stephen Hawking gegenüber der britischen Zeitung «Financial Times» sagte. Dabei ist das Wort «sagte» nicht ganz richtig, da Hawking selbst seit Langem ein KI-ähnliches Sprachsystem verwendete, weil er nicht mehr sprechen konnte. Er starb 2018 an den Folgen einer Nervenkrankheit, an der er seit Jahrzehnten gelitten hatte. Geradezu in Panik könnten aber nun Schauspielerinnen und Schauspieler geraten, wenn die am jüngsten Zürcher Filmfestival vorgestellte künstliche Schauspielerin «Tilly Norwood» Schule macht: Es gibt sie nicht, aber es werden täuschend echte Filme mit ihr in der Hauptrolle gedreht. Sie hat auch bereits eine eigene Website: «https://www.tillynorwood.com/»
Faszinierendes Konzept
Fangen wir mit dem «Segen» an: Als technisches Konzept ist KI faszinierend. Wiewohl, es handelt sich gar nicht um ein einziges, einheitliches Konzept, sondern – grob gesprochen – um eine computergestützte Nachbildung menschlichen Verhaltens und menschlicher Fähigkeiten, um eine «intelligente und glaubhafte Kopie» gewissermassen.
Gängige lexikalische Definitionen besagen, dass Künstliche Intelligenz die Fähigkeit von Computersystemen ist, Aufgaben zu erfüllen, die typischerweise mit menschlicher Intelligenz in Verbindung gebracht werden, wie zum Beispiel Lernen, logisches Denken, Problemlösen, Wahrnehmen und Entscheiden.
KI ist ausserdem ein Forschungsgebiet der Informatik, das Methoden und Software entwickelt und untersucht, die es Maschinen ermöglichen, ihre Umgebung wahrzunehmen und mithilfe von Lernen und Intelligenz Massnahmen zu ergreifen, die ihre Chancen auf das Erreichen definierter Ziele maximieren.
«Lernen, Wahrnehmen, Entscheiden» – das ist schon für unsere natürliche Intelligenz nicht immer einfach. Aber es ist «typisch menschlich», wenn man nur einmal die Seite der Intelligenz betrachtet. Neue Entwicklungen in den KI-Anwendungen (und davon handelt der erste Vorstoss, der am 16. September im Nationalrat behandelt wurde) beziehen aber schon längst auch die emotionale und körperliche Seite des Menschseins mit ein: «Deepfakes», also täuschend echt wirkende Nachbildungen menschlicher Körper und Gefühle, waren gerade in den vergangenen Wochen Gegenstand politischer Skandale, etwa in Italien, wo sogar die Ministerpräsidentin Opfer solcher Machenschaften wurde. «Segen oder Fluch?» – die Frage ist also berechtigt und bewegt uns alle. Und nicht nur, weil – scherzhaft – Schweizer Verkehrsteilnehmer, die ein Nummernschild mit den Buchstaben «AI» (für Appenzell Innerrhoden) führen, nicht unbedingt immer mit «ausserirdischer Intelligenz», sondern gerne auch mit «Artificial Intelligence» (englisch für KI) identifiziert werden.
Schweizer Politik gefordert
Es besteht Regelungsbedarf, das steht fest. Doch das Ganze ist auch ein sprichwörtliches Politikum. Denn nicht nur im Bereich der Persönlichkeitsrechte, sondern vor allem im Bereich des Urheberrechts vermuten die europäischen Verlegerverbände schon seit Langem nicht nur einen fallweisen, sondern geradezu einen systematischen Rechtsbruch. Denn durch die Such- und Lernmechanismen heutiger KI-Systeme werden systematisch und ungefragt urheberrechtlich geschützte Inhalte ohne Entgelt und meist ohne Nennung von Quellen verwendet. Genau dem will der zweite Vorstoss, den der Nationalrat am 16. September gutgeheissen hat, vorbeugen. Doch kann er das – nicht nur rechtlich, sondern vor allem faktisch? Und was bedeutet das für die Schweiz und ihre Stellung im internationalen Recht?
Der diesbezügliche Vorstoss von Ständerätin Petra Gössi will, dass journalistische und andere urheberrechtlich geschützte Inhalte vor missbräuchlicher Nutzung durch Anbieter künstlicher Intelligenz geschützt werden.
Das faktische Verbot von KI-Nutzung bei urheberrechtlich relevanten Inhalten würde unter anderem folgende KI-Nutzungen betreffen:
• Training von KI-Modellen
• Suchfunktion («Web Search» und «Deep Research»)
• Nutzung sonstiger externer Informationsquellen
• Transkribieren oder Vorlesen von Inhalten
• Zusammenfassen von Inhalten
Weil die vorberatende Kommission des Nationalrats nun den Text beider Vorstösse angepasst hat, gehen sie noch einmal zurück an den Ständerat. Das Thema bleibt uns also erhalten und wird wohl schon bald vom Ständerat behandelt werden. Die juristische Diskussion ist im Hintergrund aber schon in vollem Gange.
Kampf gegen Windmühlenflügel?
Denn eventuell ist es ein Kampf gegen die sprichwörtlichen Windmühlenflügel des barocken Romanhelden Don Quijote: Er war aussichtslos.
Dies auch, weil die Motion zu einem faktischen Verbot generativer KI in der Schweiz führen könnte, weil für einen grossen Teil der schweizerischen Inhalte für die KI-Nutzung die Zustimmung der Rechteinhaber («Opt-in», eine ausdrückliche Zustimmung) erforderlich wäre. Der zwischenzeitlich geänderte Text der Motion (wegen exakt dieser Änderung geht sie zurück an den Ständerat) geht aber nun von einem «Opt-out» aus, also einer Art vorgängigem Ausschluss der Verwendung bestimmter Inhalte durch die Urheberin oder den Urheber selbst.
Die Urheber müssten also vorgängig sagen: «Ich will nicht, dass meine Inhalte verwendet werden», was sie aber global derart isolieren würde, dass sie vermutlich nicht einmal von Suchmaschinen gefunden würden.
Die rechtliche Diskussion geht dabei momentan sowohl darum, ob dies überhaupt justiziabel sein kann («Kann man daraus ein Gesetz machen?» und «Kann man aufgrund eines solchen Gesetzes ein Gericht anrufen?») als auch darum, was die politischen Konsequenzen eines solchen Gesetzes wären.
Denn es steht zu befürchten, dass die Schweiz damit geradezu weltweit isoliert würde. Denn Unternehmen wie Anthropic, Google, Meta, Microsoft oder OpenAI könnten in Zukunft ihre Dienste für die Schweiz nicht mehr oder nur noch mit beschränktem Funktionsumfang anbieten. Sie würden, wenn überhaupt, mit einigen grossen Medienunternehmen entsprechende Verträge abschliessen und ansonsten auf Daten aus der Schweiz verzichten.
Noch mehr: Der Standort Schweiz für eigenständige KI-Entwicklungen könnte gefährdet sein. Und dabei geht es um jährliche Investitionen im Bereich von mehreren Hundert Millionen Schweizer Franken.
Andererseits besteht die offensichtliche Gefahr, dass KI-Anwendungen wie ChatGPT und andere ganze Berufssparten zerstören. Und insbesondere die mit ihrem Einsatz verbundenen Täuschungsmöglichkeiten könnten das Fundament unserer Demokratie – Glaubwürdigkeit, Echtheit – angreifen. Die Diskussion ist also noch lange nicht abgeschlossen. Doch könnte sie genauso gut durch den Druck der Ereignisse schon bald überflüssig werden – auch weil der Bund selbst bereits heute sehr weitgehende Verträge mit grossen Anbietern wie Microsoft abgeschlossen hat, Verträge, die faktisch KI-Anwendungen bereits einschliessen.
Wie also ist der Knoten zu lösen?
Mit der Annahme auch im Nationalrat – und vor allem dann, wenn der Ständerat den jetzt veränderten Text der Motion wirklich gutheisst, wird der Bundesrat eine Gesetzesvorlage ausarbeiten müssen. Aufgrund der klaren Vorgaben wäre der Handlungsspielraum für den Bundesrat aber beschränkt.
International wäre die Schweiz damit vermutlich, wird sich zeigen, in einer geradezu einmaligen Position. Ob dies zum Vorteil für Land und Leute ist, ist bislang nicht klar und wird sich erst in der detaillierten Abwägung ergeben müssen.