Eine Kolumne ist kurz. Ist sie deshalb unwichtig? Die Welt ist komplex und Zusammenhänge oft vielschichtig. Wieso gibt es Redoxreaktionen in der Chemie? Weshalb ist China keine Demokratie? Was tun bei einer Vergiftung? Wer singt am besten? Wer etwas davon beschreiben – oder auch nur ...
Eine Kolumne ist kurz. Ist sie deshalb unwichtig? Die Welt ist komplex und Zusammenhänge oft vielschichtig. Wieso gibt es Redoxreaktionen in der Chemie? Weshalb ist China keine Demokratie? Was tun bei einer Vergiftung? Wer singt am besten? Wer etwas davon beschreiben – oder auch nur einen Kommentar dazu abliefern will, der dürfte das mit so wenigen Worten kaum sinnig schaffen, meint man. Kolumnen also streichen?
Wer vor einer schwierigen Aufgabe steht, der muss einmal einen ersten Schritt tun, einen Gedanken formulieren – und das geht eben auch ganz kurz. Der Amerikaner Edmund Gettier etwa stand 1963 vor einem ähnlichen Problem. Der Philosoph sollte einen Essay über «Wissen» schreiben, die Erwartungen an ihn waren hoch. «Wie um alles in der Welt», wird sich der Philosophie-Professor gefragt haben, «soll ich das innert nützlicher Frist schaffen?» Nun, er tat es mit Kürze. Sein Artikel, «Ist gerechtfertigte, wahre Überzeugung Wissen?», zählt zu den am meisten diskutierten philosophischen Texten überhaupt – und ist drei Seiten lang.
Edmund Gettier hatte sich offenbar dazu entschieden, einige seiner Kerngedanken aufzugreifen. Er konnte in dem Moment keine Abhandlung schreiben. Und man erzählt sich, dass er diesen Text verfassen musste, um die Stelle zu behalten. Gettier formulierte in seinem Essay zwei kurze Beispiele. Diese warfen allerdings Fragen auf, an denen wir uns heute noch die Zähne ausbeissen.
Ich bin seit dem 1. Juli Redaktionsleiterin des «Frutigländers» und die Erwartungen an meine erste Kolumne sind hoch. Dabei ist die Zeit knapp und der Platz begrenzt. Ein Dilemma, vor dem ein Journalist oft steht, und eines, das alle kennen, die mal eine Rede halten oder einen Essay schreiben mussten. Gut, dass es solche Geschichten wie jene von Gettiers drei Seiten gibt. Sie zeigt: Man muss einen ersten Schritt tun – aber der kann auch klein sein.
Gettiers Essay ist auf verschiedenen Online-Plattformen einsehbar und wurde von Verlagen wie Reclam publiziert.
ANGELA KRENGER
A.KRENGER@FRUTIGLAENDER.CH