«Mein Vater war stolz auf seine Schweizer Herkunft»
18.08.2023 FrutigenSERIE, TEIL 9 Doris Brügger Silies lebt im US-Bundesstaat Tennessee. Mit dem Frutigland verbunden ist die 61-Jährige vor allem wegen ihrer Eltern Therese und Kurt Brügger-Gertsch, die 1959 zuerst nach Kanada und anschliessend in die USA ausgewandert sind.
...SERIE, TEIL 9 Doris Brügger Silies lebt im US-Bundesstaat Tennessee. Mit dem Frutigland verbunden ist die 61-Jährige vor allem wegen ihrer Eltern Therese und Kurt Brügger-Gertsch, die 1959 zuerst nach Kanada und anschliessend in die USA ausgewandert sind.
PETER SCHIBLI
Doris wurde 1962 als zweites von drei Kindern in Ottawa (Kanada) geboren. Ihr Bruder Rolf ist drei Jahre älter als sie, Bruder Andy ein Jahr jünger. 1968 zog die Familie nach Greeneville (Tennessee), wo Vater Kurt als leitender Ingenieur für die Firma Magnavox arbeitete. 1974 kam die Familie zurück nach Frutigen, um zwei Jahre später wieder in die USA zu ziehen. In Tennessee wurden die Auswanderer heimisch, sie leben noch heute dort. Kurt Brügger starb am 4. Oktober 2004 im Alter von 68 Jahren, seine aus Wengen stammende Frau Therese zehneinhalb Jahre später am 14. Mai 2015. Sie wurde 78.
Tochter Doris ging in Kanada, Frutigen und Tennessee zur Schule. Sie schloss ihre Ausbildung 1995 am Walters State Community College im Bundesstaat Tennessee ab. Heute führt sie einen Blumenladen und ist seit März 2008 mit Dan Silies verheiratet. Ihre beiden Töchter heissen Dottie Helen Porter und Magnolia Porter. Trotz der vielen Jahre im Ausland versteht und spricht Doris noch immer Frutigdeutsch. Mit dem Tal verbunden fühlt sie sich vor allem wegen der Auswanderergeschichte ihrer Eltern. Lieber als von sich selbst erzählt sie von ihrem Vater Kurt, den sie sehr bewundert.
«Frutigländer»: Aus welchem Grund ist Ihr Vater ausgewandert?
Doris Brügger Silies: Kurt fand nach dem Militärdienst und einer Schreinerlehre Arbeit bei seinem Vater in einer Werkstatt im Untergeschoss seines Elternhauses (auf dem Gufer). Mit seinem Vater verstand er sich nicht wirklich gut. Deshalb spielte er mit dem Gedanken, auszuwandern. Ungefähr zur gleichen Zeit lobten Familienmitglieder in Kanada das Leben in Übersee. Sie sprachen von den vielen Möglichkeiten, die sich dort bieten. Kurt war fest entschlossen, aber seine Frau Therese wollte nicht gehen und musste zuerst überzeugt werden. 1959 zogen meine Eltern dann mit meinem neunmonatigen Bruder in ein sehr altes Bauernhaus ohne Inneninstallation am Stadtrand von Ottawa. Sie besassen gerade mal 65 kanadische Dollar, als sie dort ankamen.
Was machte Ihr Vater in der Neuen Welt?
Kurt fand in Ottawa einen Job als Schreiner und arbeitete später für den Schweizer Schreiner Fritz Tubach. Die Familie lebte nur etwa drei Monate im Bauernhaus, bevor sie in die Innenstadt zog. Dort kamen ich als einzige Tochter und ein Jahr später mein Bruder Andy zur Welt. 1968 entwurzelte Kurt unsere Familie ein zweites Mal und zog nach Greeneville (Tennessee), wo er bis 1974 für die Firma Magnavox tätig war. Der Umzug war mit einem neuen, besseren Haus verbunden.
1974 kehrten Sie nach Frutigen zurück. Weshalb?
Mein Vater hatte gesundheitliche Probleme und wollte diese in der Schweiz behandeln lassen. Als dies nicht gelang, gingen wir 1976 zurück in die Staaten. Dort versuchte mein Vater, sich zunächst in Western North Carolina niederzulassen, aber die Arbeitsmöglichkeiten waren nicht vorteilhaft. Anfang 1977 erhielt er die Gelegenheit, für die Firma Sylvania in Hickory (North Carolina) zu arbeiten. 1981 war das Unternehmen gezwungen, sein Werk zu schliessen. Kurt erhielt ein Angebot von North American Philips (NAP) – jenem Unternehmen, das Magnavox gekauft hatte –, an dessen US-Hauptsitz in Knoxville zu arbeiten. Damals führte ein Arzt eine Magenspiegelung bei Kurt durch und stellte fest, dass er Geschwüre in seinen oberen Eingeweiden hatte. Dank einer Therapie wurde er geheilt. Zusammen mit seiner Frau Therese liess er sich im nahe gelegenen Ort Kodak nieder. Meine Eltern lebten dort bis zu ihrem Tod.
Was wurde aus Ihren beiden Brüdern?
In den 70er-Jahren absolvierte mein älterer Bruder Rolf die Highschool und machte einen Abschluss als Maschinenbauingenieur in Asheville. Mein jüngerer Bruder Andy und ich besuchten die Highschool in Newton. Nach seinem Schulabschluss trat Andy der US-Luftwaffe bei, wo er Architekt wurde.
Hatte Ihr Vater Hobbys?
Als junger Mann liebte Kurt das Skispringen und wurde Anfang der 50er-Jahre in einer Gstaader Zeitung als einer der besten Springer vorgestellt. Er war zudem sehr aktiv im Kirchenchor – an jedem Ort, in dem er lebte. Zusammen mit Therese sang er zum Beispiel in der «Ottawa Choral Society» Händels «Messiah». Kurt liebte es auch, Posaune zu spielen, was er in Frutigen gelernt hatte. In den USA spielte er bei verschiedenen Veranstaltungen in Kirchen, an Hochzeiten und Konzerten.
Ein weiteres seiner Hobbys war es, Schränke zu zimmern. Er kreierte sehr schöne Stücke, die sogar als Kunstwerke gewürdigt wurden. Er und seine Arbeit wurden in mehreren Zeitungen vorgestellt. Stolz war er auf den Altar und die Schränke, die er nicht nur für seine geliebte Kirche, deren Mitglied er in Kodak war, sondern auch für eine neu gegründete mexikanische Methodistenkirche gebaut hatte, als er und Therese dort auf Missionsreise waren.
Wie oft besuchte er das Frutigland, seine alte Heimat?
Kurt und Therese kehrten alle zwei bis drei Jahre in die Schweiz zurück, um Familie, Verwandte und Freunde zu sehen. Vor seinem Tod wünschte er sich, jeden Bekannten persönlich zu besuchen, da er wusste, dass dies das letzte Mal sein würde. Meine Mutter besuchte ihre Bekannten ungefähr alle zwei Jahre.
Haben Sie noch Angehörige in der Schweiz?
Mit Ausnahme seiner Schwester blieb Kurts ganze Familie in der Schweiz, ebenso seine Freunde und Bekannten.
Sprechen Sie und Ihre Töchter Schweizerdeutsch?
Ja, hauptsächlich ich.
Erhalten Sie ab und zu Besuch aus der Schweiz?
Verschiedene Mitglieder von Kurts Familie sowie seine Freunde kamen zwischen 1977 und 2001 zu Besuch. Es gab auch Familienmitglieder von Therese, die uns besuchten.
Wie bleiben Sie mit Freunden in der Schweiz in Kontakt?
Über viele Jahre hinweg wurde der Kontakt mit Briefen gepflegt, sodass wir immer über alle Neuigkeiten aus dem Frutigland informiert waren. Als es uns finanziell besser ging, konnten wir ab und zu mit der Familie, aber auch mit Freunden telefonieren. Mit dem Aufkommen von E-Mails wurde die Kommunikation über den Atlantik intensiver.
Lesen Sie Schweizer Zeitungen oder hören Sie Schweizer Radio via Internet?
Kurt und Therese lasen die «Schweizer Familie», damit auch wir Kinder lasen, unser Deutsch übten und über die schönen Bilder darin staunten. Mit dem Aufkommen des Internets hielten sie sich dank der Radionachrichten auf dem Laufenden. Am nächsten kam Kurt den sozialen Medien mit Instant Messaging. Er starb lange, bevor der Videochat eingeführt wurde.
Was schätzte Ihr Vater am Frutigland im Vergleich mit den USA besonders?
Er sagte immer wieder, dass das Transportsystem, die Infrastruktur und die Regierung besser seien als in den USA.
Was liebte er am neuen Wohnort?
Kurt schätzte die Weite in den Staaten und dass er in seinem eigenen Haus mit einem sehr grossen Garten leben konnte, der ihm viel Privatsphäre gab.
Gibt es Dinge, Gewohnheiten oder Werte, die Sie in den USA vermissen?
Eigentlich nicht. Kurt war stolz auf seine Schweizer Herkunft. Er steckte seine «Swissness» in alles, was er tat. Meine Eltern achteten darauf, zu Hause Schweizerdeutsch zu sprechen und Bräuche sowie Traditionen weiterzugeben, damit diese für uns Kinder zur zweiten Natur wurden.
Können Sie sich vorstellen, eines Tages in die Schweiz zurückzukehren und im Frutigland zu leben?
Nein. Wir haben uns in den USA angepasst und erkannt, dass wir gut in dieses gesellschaftliche Leben hier passen – auch wenn wir manchmal Heimweh hatten.