Nemo, ein Handy und zwei Toramäntel
14.05.2024 GesellschaftESC Am Sonntag, Tag eins nach dem Schweizer Triumph in Malmö, schickt mir ein Freund eine Whatsapp-Nachricht. «Ohne meinen früheren Chef wäre das übrigens mal gar nix geworden mit dem Sieg der Eidgenossen. Das nur so nebenbei.» Nun werde ich neugierig. ...
ESC Am Sonntag, Tag eins nach dem Schweizer Triumph in Malmö, schickt mir ein Freund eine Whatsapp-Nachricht. «Ohne meinen früheren Chef wäre das übrigens mal gar nix geworden mit dem Sieg der Eidgenossen. Das nur so nebenbei.» Nun werde ich neugierig. «Welcher Chef?», frage ich mich. «Und was hat der mit Nemo zu tun?»
MARK POLLMEIER
Zwei Wochen, bevor er in Malmö spektakulär gewinnt, steht Nemo mit seinem Begleiter Imre an einer deutschen Autobahnraststätte: A5, Wetterau-Ost, gut eine halbe Stunde nördlich von Frankfurt am Main. Der Schweizer ESC-Kandidat hat sich vorgenommen, per Autostopp nach Malmö zu reisen. Gestartet ist er in Würenlos, jetzt wartet er in der hessischen Provinz auf Anschluss.
Auf ebendiese Raststätte rollt nach einer Weile Martin Arnold. Er ist pensionierter Dekan, was in etwa einem Schweizer Regionalpfarrer entspricht. Ausserdem ist Arnold Mitglied in einem Verein, der jüdisches Leben in der Region fördert. In seinem Auto liegen zwei Toramäntel, die er zuvor in einer Frankfurter Brockenstube abgeholt hat. Toramäntel sind keine Kleidungsstücke – sie schützen und schmücken die Schriftrolle in einer Synagoge. Arnold hätte sich die kostbaren Stücke auch per Post schicken lassen können. Aber er entschied sich, sie lieber abzuholen.
«Imre ist gut im Anquatschen»
Bei seinem Zwischenstopp an der Tankstelle wird er von zwei jungen Leuten angesprochen. Sie haben ein Pappschild dabei, auf dem in bunten Buchstaben «Malmö» steht. «Imre ist super darin, Menschen anzuquatschen», hat Nemo der «Schweizer Illustrierten» erzählt. Und auch an dieser Raststätte macht Imre offenbar einen guten Job. Martin Arnold nimmt die beiden mit.
Wie es so geht: Während der Fahrt kommt man ins Gespräch. Der frühere Pfarrer, offensichtlich kein ESC-Beobachter, fragt die beiden, was sie denn in Malmö vorhaben. Nemo erzählt, er sei der Schweizer Kandidat für den dortigen Wettbewerb. Und auch Martin Arnold gibt etwas von sich preis: Er sei heute für seinen Verein und wegen der Toramäntel auf der Autobahn.
Diese Info aus der beiläufigen Plauderei wird sich später noch als sehr wichtig erweisen. Denn: Als Martin Arnold seine beiden Begleiter eine Stunde später in Kirchheim austeigen lässt, vergisst Nemo sein Handy im Auto, und als er das Missgeschick bemerkt, ist das «Taxi» längst weg.
Über drei Ecken zur richtigen Nummer
Dessen Fahrer Martin Arnold ist weitere 30 Kilometer gefahren und fast zu Hause, als sein eigenes Telefon läutet. Am Apparat ist ein verzweifelter Nemo auf der Suche nach seinem Natel. Nachdem er den Verlust bemerkt hatte, erinnerte sich der 24-jährige Bieler an den Verein «Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens in der Region Werra-Meissner», von dem der Fahrer erzählt hatte. Nemo und Imre beginnen zu recherchieren. Über den Verein und den Vornamen Martin finden sie irgendwann Arnolds private Festnetznummer heraus und erreichen dessen Ehefrau. Und die gibt ihnen die Nummer ihres Mannes.
Legende! Engel!
Nemos Handy liegt in seinem Auto, was will Martin Arnold also machen? Obwohl er fast am Ziel ist, kehrt er um und fährt auf der Autobahn zurück nach Kirchheim. Dort übergibt er Nemo das Gerät, auf dass dieser seine Reise nach Schweden erleichtert fortsetzen kann.
Mittlerweile hat der pensionierte Pfarrer sogar eine gewisse Berühmtheit erlangt. Nemo hat seine abenteuerliche Reise nach Malmö nämlich in einem Videotagebuch dokumentiert, und natürlich kommt darin auch die Geschichte mit dem verlorenen Telefon vor. In den Kommentaren wird der Telefonüberbringer mit Lob überschüttet: «MARTIN IS A LEGEND!!», schreibt ein begeisterter Fan, «Martin is an angel», ein anderer.
Das Ganze sei doch keine grosse Sache gewesen, sagt der bescheidene «Engel» später einer deutschen Lokalzeitung. Er sei früher selbst öfter per Autostopp gereist und wisse deshalb, wie das ist.
Hat also Martin Arnold, früherer Chef meines Freundes Johannes, der Schweiz zum ESC-Sieg verholfen? Nun ja, das ist vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Aber er hat Nemo und Imre zumindest einige Kilometer näher an Malmö herangebracht – und dafür gesorgt, dass der spätere Gewinner des Wettbewerbs nicht ohne sein Handy auskommen musste.
Die Episode aus Nemos Videotagebuch («A Hitchhiker’s Guide to Eurovision – Part 2») haben wir in unserer Web-Link-Übersicht hinterlegt.