Nervenkitzel beim Alpaufzug
24.06.2025 AdelbodenAm Samstag fand die «Züglete» auf die Hochalp statt. Diese Kuh hat den Aufstieg gemeistert und macht sich nun hinter das frische Gras. Beim Aufzug mit dabei war etwa die Familie Grossen mit 24 Kühen. Nicht alle Tiere sind gleichermassen motiviert für den Umzug in die ...
Am Samstag fand die «Züglete» auf die Hochalp statt. Diese Kuh hat den Aufstieg gemeistert und macht sich nun hinter das frische Gras. Beim Aufzug mit dabei war etwa die Familie Grossen mit 24 Kühen. Nicht alle Tiere sind gleichermassen motiviert für den Umzug in die Höhe. Da braucht es Helferinnen und Helfer sowie ein verlässliches Leittier. Insgesamt wechselten 500 Tiere ihre Weidegründe vom Tal auf die Alp.
Am längsten Tag des Jahres wechselten rund 500 Tiere ihre Weidegründe vom Tal auf die Engstligenalp. Deren 300 taten dies zu Fuss über den teils schmalen und steilen Pfad Unter dem Birg auf das Hochplateau unterhalb des Wildstrubels. Die ersten Alp-Mutschlis werden in zwei Wochen gereift sein.
Rund 300 Kühe machten sich ab fünf Uhr morgens auf den beschwerlichen Weg zur Hochalp, begleitet von den SennerInnen und ihren HelferInnen. Die Vierbeiner brauchen für den Aufstieg im Durchschnitt anderthalb Stunden. Trotz der hohen Temperaturen erreichten alle Tiere wohlbehalten ihr Ziel, darunter auch jene der Familie Grossen.
Wenn am Morgen des Alpaufzugs um viertel nach vier der Wecker schellt, sind Barbara und Markus Grossen meist schon wach. Die Spannung lässt das Paar und ihre beiden Kinder Endo (8) und Merel (6) den wichtigen Tag leichtfüssig beginnen. Doch bei aller Vorfreude: Grossens brechen mit dem nötigen Respekt auf. «Ein wenig Nervenkitzel schwingt mit. Denn es kann immer zu heiklen Situationen oder unerwarteten Zwischenfällen kommen, die es mit Einfühlung und Sachverstand zu meistern gilt», beschreibt Barbara Grossen ihre Gefühlslage. Die Familie aus Frutigen bewirtschaftet seit Generationen ihre Alpschaft auf Engstligen, nicht weit entfernt von der Bergstation der Bahn. Barbara Grossen erzählt, worauf es beim spektakulären Marsch der Rinder auf die Hochalp ankommt: «Entscheidend sind unsere rund ein Dutzend Helferinnen und Helfer. Wir können uns blind auf sie verlassen, sie sind den Umgang mit dem Vieh gewohnt.» Wichtig sei auch die Harmonie in der Herde und ein verantwortungsvolles Leittier. Diese Rolle nimmt die zwölfjährige Flurina ein. «Sie hilft dem Trupp, den körperlich anspruchsvollen Alpaufzug zu bewältigen. Bei der Ankunft bedanken wir uns jeweils bei ihr», sagt die Sennin.
Auch Kühe brauchen Coaching
Nicht alle Tiere nehmen den anstrengenden Aufstieg mit der gleichen Motivation unter die Hufe. Barbara Grossen vergleicht die Herde mit einer Schulklasse. «Einige benötigen Ansporn, andere muss man bremsen; die einen verhalten sich eher scheu, die anderen vorwitzig und mit einem Hang zur Selbstüberschätzung.» Manchmal bedarf ein Tier sogar eines Einzelcoachings. In Grossens Gruppe geriet die Kuh Anja – es war ihre Premiere – allmählich ins Hintertreffen. «Sie schien sich den Aufstieg nicht recht zuzutrauen. Zwei unserer Helfer nahmen sich ihrer an und begleiteten sie einfühlsam nach oben», schildert die Älplerin, die zusammen mit ihrem Mann nur einen Teil der Sömmerung auf der Engstligenalp verbringen kann. Die Arbeit im Tal ruht nicht. Das Bauernpaar hat das Glück, zwei junge Angestellte für die elfwöchige Alpzeit gefunden zu haben. Sie sind vor allem für das Verkäsen der Milch der 24 Kühe und ihrer anfänglichen rund 250 Liter Tages-Milchleistung verantwortlich. Am «Zügeltag» kümmern sich der Käser und die Käserin nach dem Melken um die Verarbeitung der Milch. In zwei Wochen werden die Mutschlis zum Konsum bereit sein.
Glänzende Treicheln
Sobald die Kühe ihren Weg auf die blumenübersäte Engstligenalp gefunden haben, stehen in den Sennhütten weitere Tätigkeiten an. Dazu gehört das Waschen der Treicheln und Glocken. Bei Aelligs beschäftigt sich eine befreundete Familie aus Zug damit. «Ich habe hier oben gearbeitet, als Aelligs Kinder klein waren. Jetzt komme ich mit meinen eigenen wieder», teilt die Mutter mit. Ein anderer Helfer fettet die ledernen Riemen ein. Der 18-jährige Andrin Aellig zeigt stolz die älteste Treichel seiner Sennenfamilie. Sie stammt aus dem Jahr 1765 und sei schon im Besitz seines Urgrossvaters gewesen. Auf die Frage, ob die Kühe mit ihren 10 bis 15 Kilogramm schweren Treicheln nicht über Gebühr belastet werden, meint er: «Ein Rind wiegt 700 bis 800 Kilogramm – im Vergleich dazu könnte ein Mensch also keinen anderthalb Kilogramm schweren Rucksack tragen.» Der junge Mann hat mit seiner Familie und dem Team 30 Kühe «gezügelt». Die Temperatur lag nach seinem Empfinden an der oberen Grenze für die Tiere. «Ihr Atem ging etwas schwerer und sie trotteten eher langsam bergan.»
Eine Kuh wie ein Teenager
Bequemer überwanden die beiden 15-jährigen Esel der Familie Wäfler die rund 600 Höhenmeter. Sie schwebten in der Transportgondel der Bergbahnen Engstligenalp AG ihrer elften Saison entgegen – genauso wie knapp 200 weitere tierische Sommergäste der Hochebene.
Rund 900 BesucherInnen wohnten dem Alpaufzug bei. Silvia und Raymond Rosenstiel sind aus Thun angereist. «Man schläft nicht gut. Wir sind um viertel vor fünf aufgestanden und trafen um halb sieben oben ein», berichtet Raymond. Der Andrang war gross.
Das Paar musste zwei Gondeln abwarten. Es nutzte die Zeit, um abgehende Herden zu beobachten. «Eine Kuh wollte nicht los. Sie blieb stehen und muhte – sie kam mir vor wie ein Teenager, der keine Lust zum Wandern hat», erzählt Silvia Rosenstiel. Ihr Mann verfolgte den Alpaufzug zum ersten Mal. Er stellt fest, dass gewisse Kühe fast schneller gehen als ihre Begleitpersonen. «Von der Gondel aus imponierte uns, wie sie die Stufen hochtrotten. Dann verschwinden sie und tauchen plötzlich wieder in einer Felswand auf. Es ist eindrücklich», fasst Raymond zusammen. Seine Frau möchte das Spektakel am liebsten jedes Jahr erleben. Das Hochplateau sei für sie Heimat. Als von weitem aus einer Sennhütte Ländler erklingen, schwärmt sie: «Das ist die zweitschönste Alpenmusik. Die schönste ist das Kuhglockengeläut.»
RETO KOLLER UND YVONNE BALDININI