Politik auf Klappstühlen
04.11.2022 PolitikLANDWIRTSCHAFT Seit Juni tüftelt ein Gremium ausgeloster Freiwilliger an der Ernährungspolitik von morgen. Im «Bürger:innenrat» ist auch ein Frutigländer vertreten. Seine Bilanz bewegt sich zwischen Begeisterung und Verwunderung.
JULIAN ...
LANDWIRTSCHAFT Seit Juni tüftelt ein Gremium ausgeloster Freiwilliger an der Ernährungspolitik von morgen. Im «Bürger:innenrat» ist auch ein Frutigländer vertreten. Seine Bilanz bewegt sich zwischen Begeisterung und Verwunderung.
JULIAN ZAHND
Wie könnte eine nachhaltige Ernährungspolitik in der Schweiz im Jahre 2030 aussehen? Dieser Frage geht der «Bürger:innenrat» seit einem halben Jahr nach. Das Gremium ist Teil des Projekts «Ernährungszukunft Schweiz» der Stiftung Biovision, des Vereins Landwirtschaft mit Zukunft und des Netzwerks für Nachhaltigkeitslösungen. Es wird unter anderem vom Bund finanziell unterstützt.
Via Strassenumfrage konnten sich Freiwillige im Vorfeld bewerben. 85 von ihnen wurden schliesslich ausgelost, wobei die Auswahl die Schweizer Wohnbevölkerung in Bezug auf Alter, Geschlecht und Sprache repräsentieren sollte. Einer der Bürgerräte ist Urs Weibel aus Kandersteg.
Ein «Schattenparlament»?
Insgesamt elfmal kam der Rat physisch oder virtuell zusammen. «Zunächst gab es zahlreiche Inputreferate, eine Fülle von Informationen. Anschliessend bildeten sich verschiedene Arbeitsgruppen mit den Themenschwerpunkten Gesundheit, Umwelt, Soziales, Wirtschaft und Produktion», so Weibel. Er selbst wurde der Gruppe «Produktion» zugeteilt und erörterte die Grundfragen, wie eine ausgewogene Ernährung aussehe, wie die saisonale und regionale Produktion gefördert werden könne und welches faire Löhne für Produzenten seien. Bei diesen Schwerpunkten achtete Weibel insbesondere darauf, dass nicht bloss industrielle Betriebe, Grossverteiler und Konsumenten im Fokus stehen, sondern auch Landwirte in Regionen wie dem Frutigland.
Am Ende arbeitete jede Arbeitsgruppe zahlreiche Ziele, Empfehlungen und Massnahmen aus. Über den Inhalt der Forderungen muss sich Weibel noch ausschweigen, denn erst am kommenden Wochenende stimmt der Bürger:Innenrat über das Gesamtergebnis dieses Meinungsbildungsprozesses ab, am Montag wird das Papier öffentlich vorgestellt. Im Rahmen des Schweizer Ernährungssystemgipfels am 2. Februar 2023 soll das Dokument Politik, Verwaltung und Praxis übergeben werden.
Gerade aus Landwirtschaftskreisen erntete das Projekt zu Beginn einige Kritik. Für solche Prozesse seien gewählte Politiker verantwortlich, hiess es. Die Schweiz brauche keine «Schattenparlamente», die illegitim, sogar suspekt seien. Urs Weibel relativiert. «Ich erkannte bei diesem Projekt keine konkrete politische Agenda, der Prozess war zu Beginn absolut ergebnisoffen. Die erarbeiteten Empfehlungen sind unverbindlich und allein die Politik wird entscheiden, was damit passiert.
Ein Papiertiger?
Genau diese Unverbindlichkeit nährt die Befürchtung, das Papier könnte letztlich mehr oder weniger unbesehen in einer Schublade verschwinden. «Um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung, welche Auswirkungen unser Produkt haben wird», sagt Weibel. Er setzte aber viel daran, dem Dossier das Schicksal des Papiertigers zu ersparen und spielte dafür seine Stärken aus: Die politischen Institutionen sind Weibel bestens vertraut, das jahrelange Engagement als Lokalpolitiker, Verwaltungsrat oder OK-Chef hat ihn zum Realisten geformt. Weibel weiss, was möglich ist und was nicht. Entsprechend kann er seine Verwunderung über die Narrenfreiheit, die während des Meinungsbildungsprozesses im Bürger:Innenrat herrschte, nicht ganz verbergen. «Die Organisatoren setzten bei den Teilnehmenden bewusst weder politische noch inhaltliche Vorkenntnisse voraus – und das merkte man.» So seien unter den ausgearbeiteten Empfehlungen wohl auch utopische Maximalforderungen dabei, die von den Entscheidungsträgern im Bundeshaus wohl eher weggelächelt würden.
Angetan ist Weibel von der Gesamtorganisation. «Diejenigen, die im Hintergrund die Fäden zogen, haben einen beeindruckenden Job gemacht.» So hätten beispielsweise die Onlinemeetings trotz komplexer Strukturen stets tadellos funktioniert.
Urs Weibel ist sich zwar straffere und klarer regulierte Abläufe gewohnt. Auch mit der Sitzordnung auf den niedrigen Klappstühlen fremdelte er zumindest zu Beginn. Dennoch hat ihn das Projekt insgesamt überzeugt. Aufgrund der breiten Abstützung berge diese Arbeitsform Potenzial, «wobei das Thema durchaus auch etwas weniger weitläufig und komplex sein dürfte als die Ernährungspolitik».