Rebellisch, gottlos, unzivilisiert
30.07.2024 GesellschaftESSAY Die Schweiz macht sich gerne klein – kleiner, als sie wirklich ist. Dahinter steckt auch Kalkül, denn die Selbsverzwergung nährt einen Stolz, der tief in unseren Wurzeln steckt und sich gut vermarkten lässt.
Rütli, 1. August 1291: Werner ...
ESSAY Die Schweiz macht sich gerne klein – kleiner, als sie wirklich ist. Dahinter steckt auch Kalkül, denn die Selbsverzwergung nährt einen Stolz, der tief in unseren Wurzeln steckt und sich gut vermarkten lässt.
Rütli, 1. August 1291: Werner Stauffacher, W alter Fürst und Arnold von Melchtal kommen zusammen und schwören sich den gegenseitigen Beistand – die Alte Eidgenossenschaft ist geboren. Das heutige Herz der Schweiz ist zu jener Zeit umgeben von Grossmächten. Vor allem die österreichischen Habsburger machen den Eidgenossen das Leben schwer, versuchen immer wieder, sie unrechtmässig zu unterwerfen. Doch die Einheimischen beweisen Rückgrat, setzen sich erfolgreich zur Wehr. Einem besonders mutigen Aufständischen gelingt es sogar, den Habsburger Vogt Gessler mit einer Armbrust zu töten.
Historisch überliefert ist das alles nicht, die legendenhaften Erzählungen um diese Vorgänge entstanden erst im Laufe des 15. Jahrhunderts. Auch der «Bundesbrief» wurde vermutlich erst nach 1291 geschrieben, lange Zeit überschätzte man zudem dessen Bedeutung. Historisch belegt ist hingegen, dass die damaligen Länder- und Stadtorte der heutigen Schweiz auch mit den Grossmächten zahlreiche Bündnisse eingingen, um die politische und gesellschaftliche Ordnung zu wahren. Das heisst: Frieden und Souveränität wurden vermutlich eher auf Pergament festgehalten als auf dem Feld erkämpft.
Gefeiert wird der 1. August aber trotzdem, und auch das Bild der trotzigen und standhaften Eidgenossen hat die Jahrhunderte ziemlich gut überdauert. Das hat auch mit der Aussenwahrnehmung zu tun: Die Eidgenossen hatten bereits im 14. Jahrhundert einen schlechten Ruf, sie galten als «rebellisch, gottlos und unzivilisiert». Obwohl sie wertvolle Söldnerdienste leisteten, tat man sich beispielsweise in Frankreich noch bis ins 18.
Jahrhundert schwer mit den «rückständigen, ungebildeten» Schweizern. Das Selbstbewusstsein der Eidgenossen schmälerte das nicht – im Gegenteil. Die Abwertung vonseiten der Grossmächte zementierte das Bild des kleinen, eingeschworenen Bundes, der es versteht, sich mit einfachen, aber schlagkräftigen Mitteln zu behaupten.
Ein eigenständiger Teil der Welt
Heute, 733 Jahre später, ist die Schweiz dem Zwergenstatus auf vielfache Weise entwachsen: Das Land gehört zu den wohlhabendsten weltweit, ist innerhalb der Finanzbranche ein Schwergewicht. Nicht nur unsere stabile Währung ist im Ausland gefragt, sondern auch unsere hochpräzisen Technologien oder Qualitätsprodukte wie Käse und Schokolade. Unsere politische Ordnung strahlt weit aus und gilt als vorbildlich. Die Schweiz hat ihren Platz in der Welt gefunden, sie wird von ihr geachtet, sie ist Teil von ihr.
Doch geografisch gesehen ist unsere Nation nach wie vor ein kleiner Fisch. Und sie legt nach wie vor grössten Wert auf Selbstbestimmung. Die direkte Demokratie versinnbildlicht dieses Bestreben; die politische Neutralität soll zudem verhindern, dass wir in die Rangeleien anderer Staaten hineingezogen werden. Die Schweiz ist nicht Mitglied der EU, sie ist eine Insel im Zentrum des Kontinents. Bis heute verfügt das Land damit über einen Sonderstatus. In diesem Sinne entspricht das Bild der heutigen Schweiz noch immer jenem der Alten Eidgenossenschaft – trotzig und standhaft. Und irgendwie macht uns das bis heute stolz.
Wenn Vögte zu Richtern werden
Doch dieses Selbstverständnis kollidiert vermehrt mit der Realität. Die Welt ist heute eng vernetzt: Rund die Hälfte der Nahrungsmittel, die in der Schweiz konsumiert werden, sind importiert, auch unsere Energieversorgung ist in hohem Masse vom Ausland abhängig. Die Migration und der Klimawandel sind globale Herausforderungen, denen sich kein Staat entziehen kann. Und schliesslich sind auch unsere Militärausgaben stets eine Reaktion darauf, was in anderen Weltgegenden geschieht.
Die Zahl der Handlungsfelder, innerhalb derer wir eigenständig entscheiden können, schrumpft somit stetig. Gleichzeitig wachsen die Anstrengungen, das Ideal ebendieser Eigenständigkeit kämpferisch zu verteidigen. Was früher die «fremden Vögte» waren, sind heute die «fremden Richter»: Der Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugunsten der Klimaseniorinnen stiess bis in die politische Mitte hinein auf harsche Kritik und wurde als Bevormundung von aussen wahrgenommen. Das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU geriet 2021 unter anderem wegen der «dynamischen Rechtsübernahme» ins Stocken. Diese würde bedeuten, dass die Schweiz geändertes EU-Recht auf noch direkterem Weg übernimmt, sofern es die bilateralen Verträge betrifft. Zwar würde dieser Mechanismus keinen Automatismus darstellen: Nach wie vor müssten die zuständigen Schweizer Gesetzgeber, unter Umständen auch die Bevölkerung, die neuen Regeln absegnen. Dennoch wurde die dynamische Rechtsübernahme mancherorts als Bedrohung unserer Souveränität verstanden – und dadurch zum unüberwindbaren Stolperstein.
Auch der neue Anlauf für Verhandlungen mit der EU (Bilaterale III) stösst längst nicht überall auf Wohlwollen, stattdessen liebäugeln bestimmte Kreise mit der Idee einer «unabhängigen» Schweiz. Diese Vorstellung orientiert sich am Mythos von 1291: am Mythos, dass uns nur der geeinte Aufstand davor bewahrte, unterzugehen.
Unsere wahre Stärke
Dass eine Nation, die sich international abkapselt, nicht automatisch zur Einheit zusammenwächst, wissen wir spätestens seit dem Brexit. Vier Jahre nach dem EU-Austritt scheint das Vereinigte Königreich zerstrittener denn je. Allein mit Rebellentum und Standhaftigkeit lassen sich auch in der Schweiz kaum tragfähige Zukunftspläne entwickeln. Stattdessen sollten wir uns auf die Stärken berufen, die schon unsere Vorfahren ausspielten. Die damaligen Eidgenossen mögen tapfere Kämpfer gewesen sein – sie waren aber vor allem geschickte Verhandler.