Weniger ist mehr

  04.11.2022 Kolumne

WENIGER IST MEHR

Ganz gleich, in welchem Lebensbereich: Der Mensch legt immer noch eine Schippe drauf. Handys haben von Jahr zu Jahr mehr Kameralinsen, Autos werden immer grösser, Gesetze immer kleinteiliger und die Liste möglicher Identitäten immer länger. Einen Mehrwert hat all das nicht – und trotzdem wäre es unfair, die Menschheit dafür zu verurteilen. Wie Studien britischer und französischer Psychologen nahelegen, entspricht das Hinzufügen von Überflüssigem unserem Naturell. In verschiedenen Versuchen sollten Probanden etwas verbessern, zum Beispiel ein vorhandenes Lego-Bauwerk stabiler machen. Die beste Lösung hätte darin bestanden, ein Bauteil zu entfernen. Doch die Probanden taten das Gegenteil: Sie fügten Teile hinzu und verkomplizierten dadurch alles. Offenbar sitzen wir dem Irrtum auf, dass Verbesserungen nur durch Erweiterungen erzielt werden können.
Würden wir ab und zu auf unsere eigenen Sprichwörter hören, wüssten wir doch eigentlich: Weniger ist mehr. Krimis werden erst durchs Weglassen von Infos spannend, Arbeitnehmer erst durch Pausen produktiv. Wirklich interessant ist stets das Ungesagte und das Nichtgezeigte. Lässt man am Buffet den dritten Nachschlag weg, dankts am Ende nicht nur die Figur – auch das Essen selbst bleibt in besserer Erinnerung. Gewürze, Make-up, Dekoration, Spülmittel, Wein ... je mehr man davon nimmt, desto schlechter wird das Ergebnis.
Nehmen wir uns stattdessen ein Beispiel an Tesla-Gründer Elon Musk: Nachdem er den Kurzmitteilungsdienst Twitter nun doch noch kaufen musste, hat er als Erstes den gesamten Verwaltungsrat gekickt. So spart er sich überflüssige Sitzungen, freche Gegenrede – und wahrscheinlich eine Menge Geld. Die Kunst des Weglassens hat sich Musk möglicherweise bei Wladimir Putin oder Xi Jinping abgeschaut. Sie erkannten schon früh: «Weniger Verfassungsklauseln = mehr Macht für mich» und räumten deshalb lästige Amtszeitbeschränkungen aus dem Weg. Weil das aber höchtens einer Verbesserung ihrer persönlichen Situa tion dient und nicht dem Allgemeinwohl, sollte der Rest der Welt sich fragen: Braucht es noch mehr solcher Herrscher oder weniger?

BIANCA HÜSING

B.HUESING@FRUTIGLAENDER.CH


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