Schädlich schlau
11.11.2022 KolumneSCHÄDLICH SCHLAU
Der Mensch ist ein geistig versiertes Wesen. Ein simples Beispiel: Wenn Sie mich fragen, welcher mein Lieblingsmonat sei, dann antworte ich mit «Mai». Dabei habe ich gar keinen Lieblingsmonat, sondern bloss eine Lieblingsjahreszeit, nämlich den Sommer. Und der liegt im Mai in seiner vollen Länge in Griffnähe. Ähnlich verhält es sich bei meinem Lieblingswochentag. Dieser ist nicht etwa der Sonntag, an dem ich am wenigsten erledigen muss. Denn der strenge Montag ist da schon gefährlich nah, weshalb ich den Samstag bevorzuge, an dem meine Vorfreude auf den Sonntag am grössten ist.
Unsere Fähigkeit, die Gegenwart anhand der Zukunft zu beurteilen, beeinflusst in manchen Fällen viel mehr als bloss mich selbst – und ist nicht immer von Vorteil. So erinnern wir uns alle an den Sturm aufs WC-Papier zu Beginn der Pandemie. Die Hamsterkäufe wurden nicht etwa getätigt, weil die Rollen knapp waren, sondern weil viele befürchteten, sie könnten knapp werden.
Das aktuellste Beispiel, in dem unsere «Weitsicht» zum Problem wird: die Inflation. Die Preissteigerung nimmt weltweit Fahrt auf. In den USA steht sie auf dem Sorgenbarometer bereits an der Spitzenposition, und auch in der Schweiz wächst die Unruhe. Die Natio nalbanken versuchen mit Zinserhöhungen, die Preissteigerungen einzuschränken und nehmen dadurch eine Rezession in Kauf.
Entscheidend wird es sein, die sogenannte Inflationserwartung zu dämpfen, die eine entscheidende Rolle spielt. Denn allein durch einen einmaligen Preisschock wie beispielsweise den Ukraine-Krieg kommt die Inflationsspirale nicht in Gang. Es braucht unsere geistige Versiertheit: Weil wir befürchten, dass die Preise künftig steigen werden, investieren wir lieber heute als morgen – und treiben die Preise zusätzlich in die Höhe. Weil wir mit Blick in die teure Zukunft überhöhte Lohnforderungen stellen, befeuern wir die Inflation zusätzlich.
Wir sind geniale Wesen, unsere Intelligenz ist bisweilen aber tückisch. Oder anders gesagt: Manchmal wäre es wohl schlauer, ein bisschen dümmer zu sein.
JULIAN ZAHND
J.ZAHND@FRUTIGLAENDER.CH