MIT ESSEN PROTESTIERT MAN NICHT
Politische Gesten bewirken zuweilen mehr als die Politik selbst. Willy Brandts Kniefall ist so ein Beispiel: Als der deutsche Kanzler 1970 in Warschau vor dem Mahnmal zum Gedenken an den jüdischen Ghetto-Aufstand zu Boden sank, stieg ...
MIT ESSEN PROTESTIERT MAN NICHT
Politische Gesten bewirken zuweilen mehr als die Politik selbst. Willy Brandts Kniefall ist so ein Beispiel: Als der deutsche Kanzler 1970 in Warschau vor dem Mahnmal zum Gedenken an den jüdischen Ghetto-Aufstand zu Boden sank, stieg gleichzeitig Deutschlands Ansehen in der Welt. Brandts demütige Geste ging in die Geschichtsbücher ein und trug entscheidend zur Verbesserung der polnisch-deutschen Beziehungen bei.
Auch Protest ist oft erfolgreicher, wenn er von einprägsamen Gesten begleitet wird. Man denke etwa an die US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos, die bei den Olympischen Spielen 1968 je eine Faust in die Luft reckten, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Oder an das kollektive Knien ganzer Fussball-Teams für den durch Polizeigewalt getöteten Afroamerikaner George Floyd. Oder an die hochgehaltenen Schuhe, die zum Symbol für den Arabischen Frühling geworden sind. All diese Gesten haben Weltruhm erlangt und damit mehr oder weniger ihrer Sache gedient.
Anders war es, als Umweltschützer eine Torte auf die Wachsfigur von König Charles warfen: Mit dieser Attacke haben sie weder sich selbst noch ihr Anliegen beliebt gemacht. Ebenso schlecht kam es an, als der echte Charles von Monarchiekritikern mit einem Ei beworfen und die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (SVP) von einem Impfgegner mit Apfelschorle übergossen wurde. Und wie verhasst sind erst die Klimachaoten, die Kunst mit Kartoffelbrei beschmieren? Unabhängig vom Motiv oder davon, ob ein Mensch zu Schaden kommt: Sobald Lebensmittel im Spiel sind, hört der Spass auf.
Deshalb wird auch Mikhail Abdalkin nicht den Ruhm erfahren, der ihm gebührt. Der russische Lokalpolitiker hängte sich Spaghetti an die Ohren, während er Putins Rede an die Nation hörte, und stellte anschliessend ein Video davon ins Netz. Damit bezichtigte er den Präsidenten öffentlich der Lüge, denn im Russischen heisst «Nudeln an die Ohren hängen» so viel wie «belogen werden». Abgesehen von ein paar Schlagzeilen blieb Abdalkins mutige Aktion weitgehend unbeachtet, denn er hat eine Grundregel der Zivilisation missachtet: Mit Essen protestiert man nicht.
BIANCA HÜSING
B.HUESING@FRUTIGLAENDER.CH