Steinwild und Gämsen unter Druck
02.07.2024 NaturDer Steinbock war in der Schweiz schon einmal ausgerottet und wurde mit einer List erfolgreich wieder angesiedelt. Auch die Gämsbestände hatten sich zwischenzeitlich erholt. Doch nun setzt unter anderem der Klimwandel den beiden Gebirgsbewohnern zu.
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Der Steinbock war in der Schweiz schon einmal ausgerottet und wurde mit einer List erfolgreich wieder angesiedelt. Auch die Gämsbestände hatten sich zwischenzeitlich erholt. Doch nun setzt unter anderem der Klimwandel den beiden Gebirgsbewohnern zu.
Anfang des 19. Jahrhunderts hatte der Steinwildbestand in der Schweiz einen Tiefstand erreicht: 1809 wurde im Wallis das letzte Exemplar geschossen. Mehr noch: Der Steinbock war beinahe aus dem gesamten Alpenraum verschwunden. Nur im italienischen Gran Paradiso gab es noch eine Restkolonie von 50 bis 100 Tieren.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in der Schweiz Bestrebungen, das Steinwild wieder anzusiedeln. Doch an die majestätischen Tiere zu kommen, war gar nicht so einfach. Offizielle Anfragen an Italien blieben unbeantwortet. Weder König Umberto I. noch sein Sohn, der spätere König Vittorio Emanuele III., wollten «ihre» Steinböcke mit anderen teilen. Also entschloss man sich, die Tiere durch eine List zu beschaffen.
Mit dem offiziellen Segen der Schweizer Behörden wurden einige Wilderer beauftragt, im Gran Paradiso Steinböcke zu fangen und in die Schweiz zu schmuggeln. Auf diese Weise kamen 1906 die ersten Tiere illegal in den Wildpark Peter und Paul in St. Gallen, der eigens für die Züchtung von Steinwild eingerichtet worden war.
Das Zuchtprogramm mit den gestohlenen Tieren verlief erfolgreich: Im Jahr 1911 wurden in der Schweiz die ersten Tiere aus den Gehegen in die freie Wildbahn entlassen. Heute leben in der Schweiz ungefähr 19 000 Steinböcke, 1200 von ihnen im Kanton Bern.
Die Gefahren des «Nachtlebens»
Die Steinböcke leben in Kolonien in den steilen Felsen der Alpen. Dort steigen sie bis in Höhen von 3500 Metern auf. Im Winter bleiben sie in tieferen Lagen auf alpinen Wiesen zum Fressen. Steinböcke sind hervorragende Kletterer. Im Frutigland leben sie an der Bire / Oeschinen, am Lohner, Aermighorn, Salzhorn und Hundshorn.
Eine Studie im Journal der britischen Royal Society of Biology vom 17. Januar dieses Jahres zeigt auf, dass das Steinwild seine Aktivität an heissen Tagen in die Nachtstunden verlagert. Dieses eigentlich nützliche Verhalten zeigen die Tiere jedoch auch in Wolfsregionen – und das hat Folgen. Die spätere Nahrungssuche des Steinwilds fällt genau in die Zeit, in der auch Wölfe auf die Jagd gehen. Für die Steinböcke steigt somit das Risiko, zur Beute zu werden. Hinzu kommt: In der Dämmerung und in den Nachtstunden können Steinböcke sich weniger gut orientieren als tagsüber. In der Dunkelheit finden sie ihre Nahrung schlechter, die Gefahr von Abstürzen wird grösser.
Hitze begünstigt Krankheiten
Im Nationalpark Hohe Tauern in Österreich wird es dem Steinbock langsam zu warm. Die höheren Temperaturen begünstigen Krankheitserreger wie die Räude. Zu diesem Schluss kommen der Wildtierbiologe Gunther Gressmann und der Wildtiermanager Johannes Huber. «Die Räude ist eine Faktorenkrankheit», sagt Gressmann, «viele Tiere tragen die Erkrankung in sich – aber nur, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen, bricht sie aus.» Ein solcher Faktor ist der Klimawandel, weil er die Tiere unter Stress setzt.
Der Steinbock mag es am liebsten kühl. Richtig kalt wird ihm erst bei 20 Grad unter null. Umgekehrt ist für ihn bei +12 Grad das Ende der Fahnenstange erreicht: Bei solch warmen Temperaturen leidet der Steinbock. «Aber zwölf Grad haben wir hier mittlerweile ständig», sagt Gressmann über den Nationalpark Hohe Tauern. Das schwächt die Abwehrkräfte der Tiere. Sie gehen erst nachts auf Nahrungssuche, wenn es etwas kühler ist, und bringen sich damit um den Schlaf. Alles zusammen begünstigt dann die Ausbrüche der Räude – so erklärt man sich die Häufung der Krankheitswellen in den vergangenen Jahren.
Verändertes Nahrungsangebot
In den letzten Jahren konnten am Zahm Andrist, am Wild Andrist und am Hundshorn im hinteren Kiental ähnliche Beobachtungen gemacht werden. Wenn es warm wird, steigen die Steinböcke hinauf in kühlere Zonen – am Abend steigen sie wieder hinunter, um zu fressen. Das ständige Auf und Ab strengt die Tiere an, es verändert das Verhalten – man spricht vom «Hitzestress» des Steinwilds.
Es gibt Studien, die zeigen, dass sich durch den Klimawandel auch die Qualität der Steinbock-Nahrung ändert. Weil Gräser und Kräuter mehr Zeit haben, um zu wachsen, verändert sich ihr Nährstoffgehalt – für die Tiere häufig zum Schlechteren. Auch das kann mittelfristig einen Einfluss auf ganze Tierpopulationen haben.
Ende des 19. Jahrhunderts war auch die Gämse selten geworden. Nur weil Gämsen sehr scheue Tiere sind, waren sie nie akut von der Ausrottung bedroht. Eidgenössische Jagdbanngebiete und strenge Jagdgesetze tragen seit dem 20. Jahrhundert zur Ausbreitung dieser Art bei. Heute leben in der Schweiz etwa 65 000 Tiere, davon rund 13 000 Exemplare im Kanton Bern.
Ausgestattet mit einem grossen Herzen
Die Gämse ist auf das Leben im Gebirge besonders gut vorbereitet: Dank ihrer spreizbaren Hufe (den sogenannten Schalen) mit ihren hartgummiartigen Sohlen kann sie im felsigen Gelände bis zu zwei Meter hohe und sechs Meter weite Sprünge absolvieren und in abschüssigem Gelände bis zu 50 km/h schnell laufen. Durch einen ungewöhnlich hohen Anteil roter Blutkörperchen wird ihr Körper auch bei hoher körperlicher Leistung mit ausreichend Sauerstoff versorgt. Das Besondere ist das Herz der Gämse: Es hat ein sehr grosses Volumen und sein Muskel ist wesentlich dicker als etwa bei den Rehen. Dadurch überstehen Gämsen auch bis zu 200 Herzschläge pro Minute.
Seit einigen Jahren ist der Gämsbestand in der Schweiz, in Österreich, Frankreich, Italien und Deutschland rückläufig. Die Ursachen sind sehr vielfältig und komplex. Die zunehmenden Freizeitaktivitäten, die grossen Luchsbestände, die Konkurrenz mit dem Rothirsch und gelegentlich auch mit dem Steinwild haben auf die Gämsbestände einen negativen Einfluss. Im Sommer müssen sich die Gämsen ihren Lebensraum mit Schafen teilen, was nicht nur Vorteile hat. Seuchen wie Gämsblindheit, Räude und andere parasitäre und infektiöse Krankheiten können zu hohen Todesraten führen. Aber auch eine falsche Jagdplanung wirkt sich, verbunden mit hohen Abschusszahlen, in einigen Kantonen negativ auf den Gämsbestand aus.
Eine neue Studie aus Wien zeigt, dass die Anpassungsfähigkeit der Gämse erstaunlich ist. Doch auch ihr Immunsystem ist durch den Klimawandel gefordert. Höhere Lufttemperaturen bedeuten Stress für die Tiere und können damit negative Auswirkungen auf ihre Krankheitsabwehr haben. Auch die klimabedingte Veränderung ihrer Umwelt macht den Tieren zu schaffen
Tiefe Geburtenrate als Nachteil
Seit 2015 wird im ganzen Alpenbogen die Situation der tiefen Gämsbestände analysiert und mit Studien begleitet. Tatsache ist, dass sich durch die geringen Reproduktionsraten (meist nur ein Kitz pro Jahr) und die relativ späte Geschlechtsreife die Populationen nur langsam erholen werden. Es wird eine oder zwei «Gämsgenerationen» dauern, bis die Bestände wieder grossflächig anwachsen.
Die Beispiele vom Steinbock und den Gämsen zeigen die Komplexität der Natur. Sie ist geprägt von einer Vielzahl von Wechselwirkungen. Jede Veränderung kann weitreichende Folgen haben und viele Ebenen beeinflussen – von den einzelnen Zellen eines Organismus bis hin zu ganzen Ökosystemen
PETER JUESY