Kolumne - ZWISCHEN BERN UND BERG
28.10.2025 KolumneZWISCHEN BERG UND BERN
Haben Sie es auch gelesen? Es hiess, Daniel Ek habe als Chef des Musikstreamingdienstes Spotify mehr verdient in einem Jahr, als die enorm erfolgreiche Taylor Swift dort je eingenommen hat. (Achtung, wie vieles, was man liest: Es stimmt nur fast ...
ZWISCHEN BERG UND BERN
Haben Sie es auch gelesen? Es hiess, Daniel Ek habe als Chef des Musikstreamingdienstes Spotify mehr verdient in einem Jahr, als die enorm erfolgreiche Taylor Swift dort je eingenommen hat. (Achtung, wie vieles, was man liest: Es stimmt nur fast – er hat keinen Lohn bekommen, sondern Aktien verkauft.) Der Mensch, der den Laden führt, macht das bessere Geschäft als die erfolgreichste Künstlerin, mit der er die Kundschaft in seinen Laden lockt. Alles okay, könnte man sagen, schliesslich behandelt er seine «Lieferanten» gut. Oder?
Taylor Swift und ich haben sonst nicht viel gemeinsam, aber das schon: Wir verdienen gleich schlecht an unserer Arbeit für die Streamingdienste. Sie verdient natürlich sehr viel, weil sie unglaublich viele Streams hat. Aber pro Stream geht es ihr nicht besser als mir: Ich erhalte aktuell 0,45 Rappen pro Stream. An den 22 000 Streams im ersten Halbjahr 2025 habe ich also gut 100 Franken verdient (etwa gleich viel wie an den sechs LPs, die ich in Frutigen nach dem Konzert kürzlich verkaufen konnte).
Der Wert eines Spotify-Streams ändert sich laufend. Wenn Spotify sein Abo in einem Land billiger anbietet, sinkt der Wert des einzelnen Streams aus jenem Land. Wenn gleich viele Leute mehr streamen, sinkt der Wert des einzelnen Streams, weil die Monatseinnahmen auf alle Nutzungen verteilt werden. Wenn Spotify einen Deal mit einer Handyfirma macht, die in ihrem Paket ein günstigeres Streaming-Abo mitanbietet, dann übernimmt nicht etwa Spotify die «Kosten» dieser Marketingmassnahme, sondern Taylor Swift und ich: Streams aus solchen Abos werden tiefer vergütet. Kurz (und vereinfacht): Spotify wälzt seine Geschäftsrisiken auf uns als Hauptlieferanten ab.
Daniel Ek hat wirtschaftlich gesehen einen gewaltigen Vorteil in dieser Ausgangslage: Unsere tolle freie Marktwirtschaft verlangt von niemandem, dass alle fair beteiligt werden, die einen Beitrag leisten zur Wertschöpfungskette eines Unternehmens. Da kann Daniel Ek persönlich gar nicht so viel dafür – so ist die Welt, und er macht halt etwas daraus.
Ich selbst habe auch einen gewaltigen Vorteil: Ich muss nicht Daniel Ek sein und als Daniel Ek in den Spiegel blicken. Das ist mir viel wert.
Ich habe aber auch sonst gewaltige Vorteile, für die ich nichts kann. Ich trage Kleider, die ich niemals bezahlen könnte, wenn alle fair beteiligt würden, die daran gearbeitet haben: vom Verkaufspersonal bis zur Näherin und zum Baumwollpflücker. Stellen Sie sich einmal diese Kosten vor! Oder meine Computer und Telefone: Wo kämen wir hin, wenn der halbwüchsige Habibi, der mit blutigen Fingern seltene Metalle aus dem kongolesischen Lehm kratzt, dafür so bezahlt würde wie die Handyfirmen-Besitzenden, die in klimatisierten Büros die Geschäftsführung übernehmen? Auch ich muss das zum Glück nicht fair bezahlen, und ich kann ja persönlich auch nichts dafür, dass die Welt so ist.
Ob Habibi im Kongo froh ist, dass er nicht als Christoph Trummer in den Spiegel blicken muss?
Ich kann die Welt und ihre seltsamen Gesetze nicht ändern. Ich kann auch nicht viel dagegen tun, dass ich an der Ausbeutung Habibis mitprofitiere. Ich muss allerdings nicht so tun, als hätte ich das irgendwie verdient. Der Unterschied zwischen Taylor Swift und mir ist, dass wir Musik machen, aber ihre Musik deutlich beliebter ist. Das hat sie wohl irgendwie verdient. Der Unterschied zwischen mir und Habibi ist, dass wir verschiedene Geburtsorte haben. Dafür tragen wir weder eine Schuld, noch ist es ein Verdienst.
Wenn ich 50 Millionen erbe, wie viel davon haben meine Vorfahren «verdient»? Also: selbst verdient, ohne Unmengen von vergleichsweise unterbezahlten Leistungen in der gesamten weltweiten Wertschöpfungskette? Und wann beginnt bei so vielen «unverdienten» Vorteilen die menschliche Pflicht, andere – zumindest die Beteiligten – teilhaben zu lassen?
Jetzt muss ich einmal diese Abstimmungsunterlagen zur Erbschaftssteuer genau lesen und über all das noch einmal nachdenken.
CHRISTOPH TRUMMER
REDAKTION@FRUTIGLAENDER.CH

