Theorie und Praxis
19.08.2025 KolumneEr sitzt da. Schaut zu den Matten auf der Alp gegenüber … und es sind kaum neun Grad! «Komm rein – du erkältest dich…», sage ich. «Es ist Sommer!», antwortet er. Klar war Sommer, aber jene Juli-Woche in Adelboden fühlte sich kälter an als ...
Er sitzt da. Schaut zu den Matten auf der Alp gegenüber … und es sind kaum neun Grad! «Komm rein – du erkältest dich…», sage ich. «Es ist Sommer!», antwortet er. Klar war Sommer, aber jene Juli-Woche in Adelboden fühlte sich kälter an als Sibirien während der Feiertage von Väterchen Frost! Ich versuche seine Hände etwas warm zu rubbeln. Die Finger sind dünne Eiszapfen. Auch so zerbrechlich. Immerhin ist er nun 90. Auch sein Kopf fühlt sich an wie «frozen Vanilla» aus der Gelateria. «Keine Widerrede – drinnen ist geheizt. Wenn du draussen bleibst, holst du dir eine Lungenentzündung. Und dann ab in die Gruft!». «Was du immer sagst!», lacht er. Und zeigt zur Alp gegenüber: «Es sind fünf Schafe. Wie letztes Jahr…» Er weiss nicht mehr, welchen Tag wir haben und ob er seine Pillen schon genommen hat. Aber die fünf Schafe auf der Pieren-Alp sind im Gedächtnis eingemeisselt. So wie die Vogelbeeren, die sich nun orange färben. «Ich freue mich auf Weihnachten. Dann sind die Beeren fast rot». «In der Theorie ja - aber in der Praxis fressen sie die Vögel vorher!». «Was du immer sagst!». Ich kann ihn nicht alleine draussen lassen. Vor drei Tagen hat er heimlich die Fenster mit Kaminasche und meinem besten Cashmere-Pullover geputzt. Ich musste danach eine Scheibenreinigungsfirma anrufen und den Pullover weinend entsorgen. Gestern hat er das Frühstücksgeschirr aus dem Garten reintragen wollen. In solchen Momenten bekomme ich Vögel. Da ist immer die Angst, dass er stürzt. Er ist nicht mehr gut auf den Bei nen. Wie auch? Mit 90, Demenz, Krebs und nie einer Stunde Sport im Leben!
«Versuchen Sie nie, seinen Willen zu brechen», hat mir der Psychoklempner eingehämmert. Wunderbar in der Theorie – aber in der Praxis muss ich jetzt in die Apotheke, um seine Pillen abholen. Ich kann ihn nicht allein im Garten zurücklassen. Besonders nicht bei diesen Temperaturen. Er wird am Stuhl anfrieren. So etwas geht dann bei den Meteo-Fritzen unter «Rekordhitze» und «Hundstage»!
«Im Dorf nehmen wir bei Schmid ein Glas Roten und drei Eier-Curry-Canapés!», mache ich ihn heiss. «Kein Alkohol… nichts Fettes… gute , magere Bio-Kost.
Und Wasser. Viel. Wasser …», so hat der Arzt mir seine Weisheiten auf den Weg mitgegeben… Auch das ist alles Theorie. In der Praxis muss ich ihn mit «Guddis» locken. Wie einen Dackel! Und diese Praxis funktioniert – wie jetzt auch. Ich schnalle ihn an. Und er schaut mir listig in die Augen: «Aber nach dem Glas Rotwein und den Canapés will ich noch Schwarzwäldertorte und einen Espresso mit Zwetschgenschnaps, sonst steige ich jetzt gleich wieder aus dem Auto». «Du bist ein alter Erpresser! Und alleine kommst du eh nicht aus der Karre raus …» «Was Du immer sagst!», lacht er laut. Es sind diese kleinen Wortgefechte in einem Leben, die laut gescheiten Studien vielleicht anders verlaufen wären, wenn er zumindest einmal in der Woche zwei Stunden Fitness gemacht hätte. Aber auch das ist verbissene Theorie. Die Praxis ist weitaus fröhlicher …!
- MINU
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