(Über)fordernde Demokratie
24.09.2024 AnalyseNATIONAL Unser politisches System verlangt der Stimmbevölkerung viel ab - regelmässig auch zu viel. Selten wurde das so deutlich wie am letzten Abstimmungssonntag.
Analyse
Julian Zahnd, Redaktion «Frutigländer»
Die ...
NATIONAL Unser politisches System verlangt der Stimmbevölkerung viel ab - regelmässig auch zu viel. Selten wurde das so deutlich wie am letzten Abstimmungssonntag.
Analyse
Julian Zahnd, Redaktion «Frutigländer»
Die SRF-Diskussionssendung «Club» vom 27. August war entlarvend: «Verstehen Sie das BVG?», lautete der Titel der Sendung. Natürlich war die Frage rhetorisch gemeint, denn der «Club» hatte sich zum Ziel gesetzt, die doch recht komplizierte Reform der beruflichen Vorsorge verständlich zu machen. Es sei doch alles gar nicht so schwierig, meinten die teilnehmenden PolitikerInnen noch bei Gesprächsbeginn, und zeigten anhand von vereinfachten Zahlenbeispielen auf, welche Auswirkungen eine Senkung des Umwandlungssatzes haben würde. Tatsächlich: Das notwendige rechnerische Leistungsniveau, um die gebrachten Beispiele nachvollziehen zu können, schien durchaus in Reichweite. 80 Minuten später war es dann vorbei mit der Klarheit. Die Sendung vermochte nicht einmal die essenzielle Frage zu klären, wen die erwähnte Senkung des Umwandlungssatzes nun betreffen würde: «Bloss 15 Prozent der arbeitenden Bevölkerung», meinten die BefürworterInnen der Vorlage. «Schön wär’s, doch leider sind es wesentlich mehr», sagten die GegnerInnen. Ein Blick in den eigenen Vorsorgeausweis bringe Klarheit, fand jemand in der Runde. Wer diesen Rat anschliessend befolgte, wurde wohl enttäuscht. Den Vorsorgeausweis ohne zusätzliche professionelle Beratung zu verstehen: für die meisten von uns vermutlich ein Ding der Unmöglichkeit.
Als die «Altersvorsorge 2020» vor ziemlich genau sieben Jahren an der Urne gescheitert war, trat die damalige Nationalrätin und heutige Bundesrätin Karin Keller-Sutter hoffnungsvoll vor die Medien, um zu verkünden, dass «der Weg nun frei sei für eine übersichtlichere Reform». Aus heutiger Sicht trägt dieser Satz beinahe satirische Züge: Umwandlungssatz, Koordinationsabzug, Überobligatorium: Ein Grossteil der Bevölkerung biss sich bereits an solchen Begriffen die Zähne aus. Und selbst wer das Vokabular beherrschte, wusste dadurch noch lange nicht, wie die Vorlage wirken würde – siehe Beispiel oben.
Stimmt man einem Vorschlag zu, den man nicht versteht? Natürlich nicht. Das wuchtige Schweizer Nein von 67,1 Prozent war die Folge. Ist der Entscheid klug, ist er dumm? Er ist auf jeden Fall nachvollziehbar.
Auch die zweite nationale Vorlage, die Biodiversitätsinitiative, überforderte uns. Nicht, weil sie besonders kompliziert ausformuliert gewesen wäre, sondern weil Umweltanliegen in der Regel langfristig angelegt und daher schwer fassbar sind. Zwar versuchten die Initianten, gestützt auf die Wissenschaft, das Artensterben an konkreten Zahlen festzumachen und mögliche Effekte auf Wetterereignisse, Trinkwasserqualität und letztlich unsere Existenz aufzuzeigen. Doch solch komplexe Szenarien sind für viele nicht nur schwer fassbar, sie können auch unsere Abwehrreflexe aktivieren. Manche dürften den Zahlen daher misstraut oder sich trotzig gefragt haben, was denn genau so schlimm daran sei, wenn die Windschutzscheibe nach einer längeren Autofahrt nicht mehr von Insektenleichen befreit werden müsse.
Die Argumente der Gegner verfingen besser, waren konkreter. Die Initiative sei «extrem», gefährde unsere Entwicklung, unsere Energieversorgung, unsere Ernährungssicherheit. Vor allem der letzte Punkt war entscheidend, wurde er doch von den Landwirtschaftsvertretern ins Feld geführt. Wer seine politischen Pläne gegen den Willen der Bauern durchsetzen will, hat in der Schweiz erfahrungsgemäss einen schweren Stand.
Am Ende sprachen sich 63 Prozent der Stimmbevölkerung gegen einen umfassenderen Schutz der Biodiversität aus. Ist der Entscheid klug, ist er dumm? Er ist auf jeden Fall menschlich.