Übergriffe in der Familie
20.10.2023 GesellschaftJUSTIZ Eine toxische Beziehung, wiederholte häusliche Gewalt, Schändung und eine sexuelle Belästigung bildeten den Rahmen einer Verhandlung am Regionalgericht Oberland. Sie endete am Mittwoch mit einem doppelten Schuldspruch.
PETER SCHIBLI
Sexuelle ...
JUSTIZ Eine toxische Beziehung, wiederholte häusliche Gewalt, Schändung und eine sexuelle Belästigung bildeten den Rahmen einer Verhandlung am Regionalgericht Oberland. Sie endete am Mittwoch mit einem doppelten Schuldspruch.
PETER SCHIBLI
Sexuelle Grenzüberschreitungen kommen einen 33-jährigen Oberländer teuer zu stehen. Der Mann lebte bis vor Kurzem mit seiner Partnerin und dem gemeinsamen Kind in einer «toxischen Beziehung», wie es vor Gericht hiess. Wiederholt wurde er gegen die Frau gewalttätig. Am 17. März 2022, nach einem weiteren Gewaltexzess, suchte er bei der Schwester seiner Partnerin telefonisch Rat und begab sich in ihr Ferienhaus im Kandertal. Dort unterhielten sich die beiden bis tief in die Nacht hinein über die zerrüttete Beziehung.
Gegen 1 Uhr morgens bat der Mann seine Quasi-Schwägerin, bei ihr übernachten zu dürfen, weil er aktuell nicht in die Familienwohnung zurückkehren könne. Diese wies ihm ein Gästebett auf der Galerie zu, wo sich der Mann aber nicht lange aufhielt. Nur mit einem T-Shirt und Boxershorts bekleidet, begab er sich in das untere Stockwerk und bat seine Schwägerin, mit ihr im selben Bett schlafen zu dürfen. Zur Begründung gab er an, er fühle sich aufgewühlt und habe Herzrasen. Als die Frau einwilligte, kam er zu ihr ins Bett und legte ihre Hand auf seine Brust.
Nächtliche Übergriffe
In dieser Position wartete er, bis die Frau schlief. Daraufhin nahm er ihre Hand und führte sie mit seiner eigenen Hand über seinen Penis, um zu masturbieren. Als seine Schwägerin aufwachte, zog sie ihre Hand zurück und machte ihrem Schwager klar, dass er damit aufhören solle. Der 33-Jährige ignorierte die Aufforderung jedoch und setzte den Übergriff trotz zweimaliger Gegenwehr der Frau fort. Schliesslich setzte sich die Schwägerin auf und zog sich an.
Am Morgen fuhr sie den nächtlichen Besucher zum Polizeiposten in Spiez, wo dieser zur häuslichen Gewalt an seiner Partnerin befragt werden sollte. Bei dieser Gelegenheit erfuhr die Polizei auch von den sexuellen Handlungen an der Gastgeberin.
Gegensätzliche Plädoyers
Die nächtlichen Übergriffe trugen dem 33-Jährigen eine Anklage wegen Schändung, versuchter Nötigung und eventueller sexueller Belästigung ein. Die Staatsanwaltschaft Oberland verlangte eine bedingte Freiheitsstrafe.
Vor Gericht bestritt der Beschuldigte in Anwesenheit eines amtlichen Verteidigers die Vorwürfe: Die Schilderungen würden auf Fantasien der Schwägerin beruhen. Sein Verteidiger argumentierte, die Frau habe ihre Aussagen bei der Polizei und bei der Staatsanwaltschaft konstruiert und auswendig gelernt vorgetragen. Sie seien nicht glaubwürdig.
Klartext sprach die Anwältin des Opfers: Ihre Mandantin habe durch die Übergriffe eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten. Der Vertrauensbruch habe zu panischer Angst vor dem Beschuldigten geführt, gemischt mit Scham und Wut. Die Frau werde seit den Geschehnissen von Kopfweh, Schwindel und Schlafstörungen verfolgt. Das berufliche Fortkommen habe gelitten. Die Aussagen des Opfers seien im Gegensatz zu den spärlichen Aussagen des Beschuldigten glaubwürdig. Für den Erwerbsausfall ihrer Mandantin forderte die Anwältin Schadenersatz in der Höhe von 41 000 Franken und eine Genugtuung von 7000 Franken.
Für Gerichtspräsident Jürg Santschi waren die vorgebrachten Beweise für die Tatbestände Schändung und sexuelle Belästigung ausreichend. Eine sexuelle Nötigung liege jedoch nicht vor, weil die bei den Übergriffen ausgeübte Gewalt nicht das nötige Mass erreicht habe. Santschi sprach den Mann schuldig und verurteilte ihn zu einer teilbedingten Geldstrafe von 3000 Franken sowie zu einer unbedingten Übertretungsstrafe von 1500 Franken. Von einer Freiheitsstrafe sah er ab.
Ein Urteil mit Folgen
Ins Gewicht fallen die Gebühren in der Höhe von 8850 Franken sowie die Parteientschädigung an die Opferanwältin in der Höhe von 10 600 Franken. Wie vom Gesetz vorgeschrieben, verhängte der Gerichtspräsident für den Beschuldigten ein lebenslängliches Tätigkeitsverbot für jede berufliche oder ausserberufliche Tätigkeit, die einen regelmässigen Kontakt zu volljährigen, besonders schutzbedürftigen Personen oder Patienten umfasst. Die Zivilforderungen (Schadenersatz und Genugtuung) wurden vom Gericht im Grundsatz gutgeheissen. Zur Bezifferung der Höhe verwies das Gericht indes auf den Zivilweg. Dies betrifft auch eine Zivilforderung der Versicherung des Opfers.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Nicht entschieden wurde bisher über neue Strafanzeigen der Partnerin des Beschuldigten und deren Familie wegen häuslicher Gewalt.