Unglück von Lissabon: Am Niesen ist das unwahrscheinlich
16.09.2025 GesellschaftLaut ersten Untersuchungserkenntnissen hat sich in Lissabon das Seil von der Unglücksbahn gelöst. Wie das passieren konnte, beschäftigt auch die Mitarbeitenden der Niesenbahn. Eines ist klar: Selbst wenn es zu einem Seilriss käme – eine Entgleisung ist am Niesen ...
Laut ersten Untersuchungserkenntnissen hat sich in Lissabon das Seil von der Unglücksbahn gelöst. Wie das passieren konnte, beschäftigt auch die Mitarbeitenden der Niesenbahn. Eines ist klar: Selbst wenn es zu einem Seilriss käme – eine Entgleisung ist am Niesen nicht möglich.
RACHEL HONEGGER
«Ein Drahtseil ist in meinen Augen eines der sichersten Elemente im Bahnsystem», erklärt Andreas Wiedmer, Leiter Betrieb und Technik der Niesenbahn. Und man könnte fast meinen, er rede über eine Person, als er weiterspricht: «Wenn man es richtig behandelt und gut zu ihm schaut, dann ist ein Seil extrem gutmütig, man merkt ihm wirklich an, wenn es ihm nicht gut geht.» Ein defektes Seil kündige sich an. Um nichts zu verpassen, wird das Seil der Niesenbahn alle drei Jahre magnetinduktiv geprüft. Das heisst, es läuft durch ein Gerät mit einer Magnetspule, welches bei einem Drahtbruch ausschlägt. Diese Prüfung werde jeweils von einer externen, zertifizierten Seilprüfstelle durchgeführt und folgt genauen Vorgaben. «Bei einem groben Gewitter oder bei Steinschlag prüfen wir das Seil natürlich umgehend auch visuell», ergänzt Andreas Wiedmer. Ausserdem werde das Drahtseil alle vier Jahre an dessen Ende gekürzt und mit einem neuen Kopf versehen, denn der Übergang von Seil zu Kopf, das sei die schwächste Stelle im System. Wie es nach neuester Erkenntnis scheint, ist bei der historischen Bahn in Lissabon genau in diesem Bereich die Unglücksursache zu orten. Bei guter und fachgerechter Behandlung könne ein Seil der Niesenbahn aber durchaus 20 bis 30 Jahre im Einsatz sein.
«Ist es das gleiche Bahnsystem wie bei uns?»
Warum man also in Lissabon das Unglück nicht kommen sah, lässt auch Andreas Wiedmer im Moment noch ratlos zurück. Der Unfall gibt in der Branche zu reden und zu denken. «Mich hat das natürlich schon beschäftigt und es hat mich sehr betroffen gemacht. Schliesslich befördern wir ebenfalls viele Gäste und für diese fühlen wir uns verantwortlich. Wir haben das auch im Team besprochen: Warum ist es dazu gekommen, was müssen wir bei uns beachten und hat es für uns Konsequenzen?» Viele Gedanken seien ihm durch den Kopf gegangen. «Meine erste Frage war: Ist es das gleiche Bahnsystem wie bei uns?»
Nein, das ist es nicht, und darin liegt der entscheidende Unterschied. Warum das Seil in Lissabon sich gelöst hat und vor allem, warum die Bremsen den Wagen nicht stoppen konnten, darauf gibt es noch keine Antworten. Auch Wiedmer, gelernter Seilbahnmechatroniker mit Weiterbildung zum Fachmann Seilbahn, kann nur mutmassen. Klar ist aber, am Niesen ist ein solcher Unfallhergang nicht möglich. Denn bei der Niesenbahn läuft das Seil oben am Berg über ein Antriebsrad. Das heisst, ein Elektromotor steuert dieses externe Rad, aber nicht die beiden Wagen. Soll die Bahn während der Fahrt geplant anhalten, dann wird der Antrieb gedrosselt, es kommt zu einem gezielten Ausrollen.
Andreas Wiedmer erklärt das System und dass im Notfall gleich drei sich ergänzende Bremssysteme zum Einsatz kommen: die Sicherheitsbremse direkt auf das Antriebsrad, die Betriebsbremse auf den Antriebsstrang vor dem Getriebe und die Fangbremsen auf den Wagen.
Drei Bremssysteme für maximale Sicherheit
Braucht es wegen kleiner Störungen oder Vorfälle einen Not-Stopp, so hat der Fahrer oder die Fahrerin die Möglichkeit, als erstes die Betriebsbremse auszulösen. Kommt es zum Systemfehler oder zu einer sicherheitsrelevanten ...
Abweichung vom Normalzustand, dann wird umgehend die Sicherheitsbremse ausgelöst und wirkt direkt auf das externe Antriebsrad ein – es gibt einen Not-Stopp. Die Bahn hängt dann sozusagen in den Seilen.
Ganz anders in Lissabon: Dort läuft das Seil über ein Umlenkrad am Berg. Die beiden Wagen haben je einen eigenen, eingebauten Elektromotor – dieser treibt direkt die Wagenräder an und folglich wirkt auch die Bremse direkt aufs Rad. «Wenn die Bremse also fängt, blockiert das Wagenrad. Das ist dann wie ein Schlitten», erklärt Wiedmer das Lissaboner Bahnsystem. So könnte der Wagen ins Rutschen und schliesslich zum Entgleisen gekommen sein.
Und hier kommt am Niesen die dritte Bremse ins Spiel. Denn selbst wenn im wahrsten Sinne des Wortes alle Stricke reissen sollten, greift bei der Niesenbahn die Fangbremse, und dies seit dem allerersten Tag vor 115 Jahren. Eine solche hätte wohl das Unglück in Lissabon verhindern können.
Um den Mechanismus der Fangbremse zu erklären, steigt Andreas Wiedmer in der Mittelstation die Treppe zwischen den Schienen hinab und begibt sich unter den Wagen.
Wenn alle Stricke reissen
«Pro Wagen gibt es zwei Fangbremsen. Sobald der Seilkopf entlastet wird, also zum Beispiel wenn der Wagen, welcher den Berg hochfährt, schneller wird als das Seil, dann greift die Fangbremse.» Und zwar schon beim kleinsten Problem. Und natürlich auch dann, wenn ein Seil reisst oder sich löst. «Das ist wie bei einer Mausefalle», ergänzt Wiedmer, «die ist auch so eingestellt, dass eine kleine Bewegung sie schon auslöst.»
Als Laie kann man sich diese Fangbremse oder auch Klemmbremse ähnlich wie einen Greifer beim Bagger vorstellen, einfach viel kleiner. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Keilform der Schienen, wie Wiedmer erklärt: «Die Fangbremse ist dadurch gleichzeitig ein Entgleisungsschutz. Sie ist nämlich so über die Schiene gelegt, dass sie den Wagen in der Spur hält. Würde die Bahn entgleisen wollen – sei es zum Beispiel wegen extrem viel Schnee oder wegen eines Baumstücks auf dem Trassee –, dann kann es den Wagen nicht rausheben, sondern nur leicht anheben, die Fangbremse hält das Ganze fest.» Das ausgeklügelte System ist zudem mit einer Kupplung versehen, welche so eingestellt ist, dass genau die richtigen Kräfte wirken: «Diese Kupplung macht, dass kein Material bricht, aber auch, dass nichts ins Rutschen kommt. Wir kontrollieren und justieren diese Kupplung alle drei Monate. Dabei lösen wir jeweils auch die Fangbremse aus.» Eine solche Fangbremse scheint es in Lissabon nicht zu geben – sie hätte wohl Leben retten können.
Klar ist aber auch: Jedes System ist nur dann auf Dauer sicher, wenn Überprüfung und Wartung seriös durchgeführt werden und die Menschen dahinter stets aufmerksam bleiben.
«Wir sind auf einem sehr guten Stand»
Das Unglück in Lissabon hat deswegen auch Andreas Wiedmer und sein Team angeregt, zu überlegen, was noch verbessert werden müsste: «Wir sind zum Schluss gekommen, dass wir mit unseren täglichen, wöchentlichen, monatlichen, vierteljährlichen und jährlichen Kontrollen auf einem sehr guten Stand sind. Aber ich bin auch der Meinung, dass wir dies immer wieder kritisch hinterfragen müssen. Und wichtig ist für mich auch, dass ich mich mit anderen technischen Leitern in gleicher Funktion regelmässig austausche. Denn ja, das Ganze hat unsere Branche betroffen gemacht, wir reden darüber.» Und seinem Team gibt er schon seit jeher mit auf den Weg: «Fragt lieber zweimal zu viel als einmal zu wenig.» Wenn sich jemand nicht sicher sei, dann soll er nachfragen und Hilfe holen.
Er selbst handhabe das auch so. Mit seinem Team im Rücken und einem ganzen Paket an Massnahmen wie Checklisten für Wartung, Sicherheits- und Bergungskonzept, regelmässigen Weiterbildungen und vielem mehr kann Andreas Wiedmer voller Überzeugung sagen: «Ich fahre mit einem guten Gefühl in der Niesenbahn!»