ZWEIGESPRÄCH

Nora:
«Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle», trällere ich vor mich hin, während ich in der milden Frühlingssonne sitze und mein dringend benötigtes Vitamin D tanke. Ich recke mein empfindliches Näschen in die Luft und atme tief ein: der Duft der Apfelbaumblüten und der von frisch wachsendem Gras liegen in der Luft. Kein Zweifel – der Frühling ist da. Aber nicht nur der Duft der Pflanzen und Blüten weist mich darauf hin, es sind die vielen kleinen Dinge, die mir zeigen, dass die kalte Jahreszeit nun vorbei ist.
So zum Beispiel das fröhliche Vogelgezwitscher, das mich frühmorgens sanft aus meinem wohligen Schlaf holt. Oder die ersten Spargeln, die ich genüsslich am Samstagabend mit einer feinen Kräuterquarksauce verspeise (vielen Dank an unsere Nachbarn an dieser Stelle). Der jährliche Frühjahrsputz, bei dem meine Mutter und Grossmutter alle möglichen Schäftchen und Schublädchen «useputze».

Auch der Kleidungswechsel gehört für mich zum Frühling: Nun kann ich endlich wieder die dünneren und leichteren Kleider aus den hintersten Winkeln meines Schrankes hervorholen. – Und die ersten Eier meiner Wachteln, die sie wieder jeden Abend legen und mit denen man köstliche Spiegeleier machen kann. Oder auch die Fahrräder, welche ich aus dem Keller hochschleppe, und die Pflanzen, die aus ihrem dunklen Winterquartier wieder raus ins Licht und an die Wärme dürfen. All dies zeigt mir, wie schön doch diese Jahreszeit ist, und ich merke, wie gut mir die Sonne und die Wärme tun. Ich merke, dass ich glücklicher bin, öfter lache und mich einfach gut fühle. Und nicht nur mir geht es so. Auch in der Schule ist die Stimmung spürbar besser: Es gibt weniger Streitereien, Lehrer und Schüler sind entspannter, motivierter und haben mehr Freude am Unterricht. Wenn ich dann während einer etwas zähen Unterrichtsstunde aus dem geöffneten Fens ter blicke und sehe, wie die Leute auf dem Rasen essen, lesen oder einfach ihre Freizeit geniessen, huscht mir schon fast ganz automatisch ein Lächeln übers Gesicht. Und noch etwas liebe ich ganz besonders am Frühling: die Hummeln und Bienen, die von Blüte zu Blüte summen und die gesammelten Pollen in ihre Stöcke zurückbringen. – Apropos, wenn wir schon bei Pollen sind ...

Elia:
... die sind nämlich, wenn ich das in aller Frechheit anmerken darf, eine wahrhafte Plage. Die Allergiker unter Ihnen wissen, wovon ich spreche. Kaum recken die ersten Blüten vorsichtig ihre Köpfchen aus dem verbleibenden Schnee, kaum sind die Immen wieder emsig bei der Arbeit, schon geht’s los, das obligatorische Geniese. Das Niesen ist aber nur ein zarter Vorbote des grössten Elends, das jede Allergie mit sich bringt: die tränenden Augen. Mit Niesern kann ich leben; sie sind unangenehm und ab einer gewissen Anzahl durchaus lästig. Sie behindern auch beim Lesen oder beim Arbeiten, die verschwommene Sicht hingegen verunmöglicht beides. Eines ist klar: So werde ich den Frühling niemals durchstehen, vom Sommer ganz zu schweigen. Es muss dringend etwas getan werden. Ich suche also, von Niesanfällen geschüttelt und mit getrübtem Blick, in sämtlichen Schränken und Schubladen nach den Medikamenten vom letzten Jahr. Da ich nicht mehr genau weiss, wie sie heis sen, bin ich auf die Restbestände vom letzten Jahr angewiesen. Wühlend und suchend verteufle ich sämtliche Blumen, schimpfe über die Bäume und all die übrigen kümmerlichen Gewächse, die mir die Freude am Frühling derart vergällen. In solchen Momenten wäre es mir am liebsten, es gäbe keine Blumen, keinen Frühling und schon gar keine Pollen. Und doch würde ich die Blumen wohl vermissen, wenn sie plötzlich nicht mehr da wären. Denn so sehr sie mich auch quälen und peinigen, Blumen sind unentbehrlich. Nicht nur für die Ökosysteme und die Biodiversität, sondern auch für das ästhetische Erscheinungsbild unserer Umgebung. Ohne Blumen wäre unsere Welt grau und freudlos. Weil auch ich mir in meinem tiefsten Inneren eine solche Welt weder vorstellen kann noch möchte, übe ich mich in Schmerztoleranz. Und sobald ich meine Tabletten vom letzten Jahr wiedergefunden habe, eile ich schleunigst zur nächsten Apotheke und hole mir Nachschub; dann kann der Sommer kommen!

NORA JOST / ELIA STUDER

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Kolumne - Zweigespräch

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