Von Athen bis Wuhan: immer dasselbe
13.12.2024 GesellschaftZEITGESCHICHTE Kriege, Umbrüche, Verschwörungstheorien: die Zutaten für Seuchen und Pandemien ähneln sich seit Jahrhunderten. Offenbar hat der Mensch seit der Antike nur wenig dazugelernt.
MARK POLLMEIER
Im Jahr 430 v. Chr. versuchten die ...
ZEITGESCHICHTE Kriege, Umbrüche, Verschwörungstheorien: die Zutaten für Seuchen und Pandemien ähneln sich seit Jahrhunderten. Offenbar hat der Mensch seit der Antike nur wenig dazugelernt.
MARK POLLMEIER
Im Jahr 430 v. Chr. versuchten die Spartaner, das mächtige Athen einzunehmen. Während der Belagerung brach in dem Stadtstaat eine geheimnisvolle Krankheit aus, die man später die «Attische Seuche» nannte. Es ist bist heute unklar, was genau die Epidemie in Athen ausgelöst hatte – bekannt sind aber ihre Folgen. In mehreren Wellen raffte die Krankheit mindestens ein Viertel der Bevölkerung dahin, die Athener Gesellschaft zerfiel. Als der Krieg vorbei war, hatten sich die politischen Verhältnisse im antiken Griechenland völlig verändert: Die Vormachtstellung Athens war gebrochen.
Seuchen als Produkt der Umstände
Die «Attische Seuche» ist typisch für den Verlauf späterer Krankheitswellen. In der Geschichte traten unbekannte Erreger häufig in Umbruchsituationen auf – und führten dann zu vielen weiteren Veränderungen.
Der Untergang der Antike
Im 6. Jahrhundert wütete im Mittelmeerraum die sogenannte Justinianische Pest, die tatsächlich durch den Pesterreger ausgelöst wurde. Die Seuche hinderte den römischen Kaiser Justinian daran, das bereits vom Zerfall bedrohte Römische Reich wieder zu vereinen. Das Ende Roms – und damit der Antike – war danach nicht mehr aufzuhalten.
Beginn einer neuen Epoche
Ab dem 14. Jahrhundert erschütterte die Pest erneut ganz Europa, und wiederum traf sie auf «ideale» Bedingungen. Die Bevölkerung war durch Kriege und lokale Klimaveränderungen vielerorts geschwächt, der tödliche Erreger hatte leichtes Spiel. Ein Drittel der Europäer, rund 30 Millionen Menschen, verloren ihr Leben.
Die radikalen Umwälzungen erschütterten das bisherige Weltbild, die christliche Lehre geriet unter Druck. Wohl nicht zufällig ging aus dem Pestzeitalter die Renaissance hervor, die sich auf das Irdische konzentrierte statt auf Spiritualität und Jenseits. Fortan bestimmten Mathematik und Wissenschaft das Denken.
Von der Krankheit zum Kuchen
Auch die nächste grosse Krankheitswelle trat während eines Epochenwechsels auf. Die Nachwehen der Französischen Revolution führten in vielen Ländern zu Umbrüchen. Die Demokratie etablierte sich, die Industrialisierung setzte ein und trieb viele Menschen in die Städte, wo sie unter teils desolaten hygienischen Bedingungen hausten – der ideale Nährboden für Cholera-Bakterien. In der Schweiz, vor allem im Wallis, kennt man bis heute eine Gemüsetarte, die aus jener Zeit stammt: den Cholera-Kuchen. Eine Erklärung dieses Namens geht auf die Krankheitswellen zurück. Während die Seuche grassierte, verboten die Behörden den Austausch von Waren. Märkte waren untersagt, man musste sich weitgehend selbst versorgen. Also wanderte in den Cholera-Kuchen, was der eigene Haushalt an haltbaren Lebensmitteln hergab: Kartoffeln, Äpfel, Zwiebeln, Lauch, Speck, Rahm, Käse.
Mehr Opfer als im Weltkrieg
Die vorletzte globale Seuche, die Spanische Grippe, traf auf Menschen, die vom Ersten Weltkrieg ausgelaugt waren. Die Mobilität, die inzwischen stark zugenommen hatte, trug zur schnellen Verbreitung der Grippeviren bei. Zwischen 1918 und 1920 starben in drei Wellen mindestens 20 Millionen Menschen – deutlich mehr, als im Krieg umgekommen waren. Schätzungen gehen sogar von 50 und mehr Millionen Opfern aus.
Und Covid-19? Auch das Coronavirus traf – im übertragenen Sinne – auf eine Ausnahmesituation. Noch nie zuvor trieb der Mensch stärkeren Raubbau an der Natur, nie wurde so viel gereist, nie in der Geschichte gab es Megastädte mit zig Millionen Einwohnern. So verwundert es nicht, dass Corona zuerst in der 8-Millionen-Metropole Wuhan auftrat. Über Touristen, Geschäftsleute und Wanderarbeiterinnen fand es von dort aus schnell seinen Weg in die übrige Welt. Die Globalisierung gilt eben nicht nur für günstig produzierte Waren, sondern auch für potente Krankheitserreger.
Nationalistische Reflexe
Die Politik ist in dieser neuen, globalisierten Welt noch nicht angekommen. Auf die Krankheitswelle, die sich im Frühjahr 2020 aufbaute, reagierten nahezu alle Staaten gleich: Mit nicht abgestimmten nationalen Massnahmen, die an der jeweiligen Landesgrenze endeten. Während die einen schon den Shutdown einleiteten, diskutierten die anderen noch, ob eine kontrollierte Durchseuchung nicht das bessere Konzept wäre. Als ein Staat wieder Grenzkontrollen einführte, mussten andere wohl oder übel nachziehen. Lange wurde darüber gestritten, ob das Tragen von Masken etwas bringe oder nicht – jedes Land agierte in dieser Frage anders, und nicht selten änderte sich die Haltung nach einer Weile.
Mit Sperrgürteln gegen Viren
Auch diese nationalen Alleingänge sind, vor allem zum Beginn einer Pandemie, nichts Neues. Insbesondere Grossmächte versuchten schon immer, die gesundheitliche Bedrohung durch einseitige Massnahmen «draussen zu halten». Mit einem 2000 Kilometer langen, militärisch gesicherten «Sanitätskordon» wollten die Habsburger im 17. Jahrhundert die Pest von ihrem Reich fernhalten. Gut 150 Jahre später errichteten die Preussen Sperrgürtel gegen die Ausbreitung der Cholera. Was beide Mächte lernen mussten: Man kann Gebiete mit einer Grenzlinie von Tausenden Kilometern nicht hermetisch abriegeln. Überdies zieht man sich mit solchen einseitigen Massnahmen den Zorn der Nachbarn zu und schwächt die eigene Wirtschaft.
Internationale Reibereien gab es auch während der Corona-Krise. Medizinische Ausrüstung wurde blockiert und beschlagnahmt, ein Land trieb das andere mit seinen Massnahmen vor sich her. An gegenseitigen Schuldzuweisungen und Verdächtigungen mangelte es nicht, und man darf gespannt sein, wie sich die gesundheitspolitische Zusammenarbeit künftig entwickeln wird. Dass Corona nicht die letzte Pandemie war, mit der die Welt konfroniert sein wird, gilt als sicher.
Verschwörungstheorien und Sündenböcke
Flammt eine Pandemie auf, sucht die Gesellschaft nach Ursachen und Schuldigen. Als die eingangs erwähnte Attische Seuche wütete, beschuldigten die Athener die Spartaner und Perser, ihre Brunnen vergiftet zu haben. In späteren Jahrhunderten wurde das Brunnenvergiften regelmässig den Juden zugeschoben – oft mit fatalen Folgen. Als 1349 die Pest grassierte, wurden die Basler Juden auf einer Insel im Rhein verbrannt, in einem eigens dafür erbauten Holzhaus.
Auch an anderen Orten wurden die jüdischen Gemeinden ausgelöscht, in vielen Dörfern im Elsass, in Freiburg (Breisgau), in Mainz. Mitte des 14. Jahrhunderts waren in Mitteleuropa kaum noch Juden am Leben. Seuchen gab es freilich weiterhin.
Schuld sind immer «die Anderen»
Später brachte man Frauen als vermeintliche Hexen um, man verdächtigte Lumpensammler oder durchreisende Händler. Sie alle wurden beschuldigt, Krankheit und Tod gebracht zu haben. Immer spielte dabei das Motiv des absichtlichen Vergiftens eine Rolle. Dass Seuchen eine andere Ursache haben könnten, kam den Menschen damals nicht in den Sinn.
In der Neuzeit nahm zwar der Aberglaube ab, doch auch der moderne Mensch sucht die Schuld für neue und unerklärliche Ereignisse stets zuerst beim Anderen, Fremden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Syphilis. Je nachdem, wann und wo die Infektionskrankheit ausbrach, hiess sie italienische Krankheit, Franzosenkrankheit, spanische oder kastilische Seuche, englische, schottische oder polnische Krankheit.
Ähnlich war es bei der Spanischen Grippe. Die Spanier nannten sie Soldado de Nápoles (Soldat von Neapel), bei britischen Soldaten hiess sie «flandrische Grippe», ähnlich bei den Deutschen, die vom «Flandern-Fieber» sprachen. Mit der Benennung einher ging das Urteil: Eingeschleppt wurde die Seuche immer von den Anderen.
«Konzentrationsheime» für Aids-Kranke
Auch an Aids, ausgelöst durch das HI-Virus, liess sich beobachten, wie Gesellschaften stets auf der Suche nach Schuldigen sind. Als Anfang der 1980er-Jahre die ersten Fälle auftraten, wurde die Krankheit als Lustseuche, später dann als Schwulenseuche bezeichnet. Dabei waren weder Lust noch Homosexualität die Ursache, sondern eben ein Erreger, der zu einer Schwächung des Immunsystems führt. Trotzdem wurden allerlei zweifelhafte Strategien diskutiert, wie man die Krankheit eindämmen könnte. In Deutschland schlug der spätere Gesundheitsminister Horst Seehofer vor, Aidskranke in «speziellen Heimen zu konzentrieren». In der Schweiz kursierte der Vorschlag, HIV-Infizierte mit einer Tätowierung im Genitalbereich zu kennzeichnen. Beide Massnahmen wurden nicht umgesetzt.
Der russische Geheimdienst KGB verbreitete in jenen Jahren das Gerücht, das Aids-Virus sei in einem US-Labor gezüchtet worden, und bis heute kursieren verschiedene Labor-Theorien, die den Ursprung des Coronavirus zu erklären versuchen. Dass man dem Anderen, dem Fremden die Urheberschaft für das Schlechte zuschiebt, war stets eine beliebte Form der Propaganda – die schliesslich in der Ermordung von Millionen Juden in ganz Europa gipfelte. Schon während des Ersten Weltkriegs hatte sich diese Katastrophe angebahnt.
Als in dem von Deutschen und Österreichern besetzten Osteuropa das Fleckfieber ausbrach, suchte man nicht etwa nach einem Impfstoff, um den Erreger zu bekämpfen. Stattdessen beschuldigten die Besatzer die Juden. Sie liessen ihre Häuser durchkämmen und sie zusammentreiben. Anschliessend schnitt man ihnen öffentlich Haare und Bärte ab, ihre Kleidung wurden mit einem Entlausungsmittel auf der Basis von Blausäure behandelt. Die dazu verwendeten Chemikalien waren eine Vorform von «Zyklon B», dem späteren Vernichtungsgas. Gesundheitspolitisch brachte die Aktion natürlich rein gar nichts. Aber einmal mehr waren die Juden als vermeintlich Schuldige gebrandmarkt.
Dass wegen einer Krankheitswelle ganze Bevölkerungsgruppen ausgelöscht werden, scheint in den zivilisierten Ländern des Westens heute nicht mehr vorstellbar. Verschwörungstheorien und Schuldzuweisungen gab und gibt es aber seit der Corona-Krise zuhauf. Mal sollen die USA das Virus gezüchtet haben, um die Chinesen zu schwächen, mal soll der Erreger aus einem chinesischen oder russischen Labor entwichen sein. «Big Pharma» habe das Virus erfunden, um anschliessend mit Impfstoffen und Masken Milliarden zu verdienen. Manche glauben, mithilfe des Virus solle die Menschheit unterjocht werden – auf dass man eine neue Weltordnung errichten könne. Andere behaupten, Covid-19 werde mittels 5G-Strahlung verbreitet. Oder Bill Gates bereite zusammen mit der WHO einen globalen Impfzwang vor, um jedem Menschen einen Mikrochip einzupflanzen.
Der Gedanke, dass eine Pandemie auch «einfach so» auftreten kann, ist für manche Menschen offenbar nur schwer auszuhalten.