Wachsende Geschäftslast, längere Wartezeiten
04.06.2024 GesellschaftJUSTIZ Bei wichtigen Strafverfahren aus dem Oberland dauert es nach wie vor Jahre, bis sich die Beschuldigten vor Gericht verantworten müssen. Der neuste Geschäftsbericht 2023 der Berner Justiz bestätigt die Zunahme neuer Fälle. Vom «Frutigländer» ...
JUSTIZ Bei wichtigen Strafverfahren aus dem Oberland dauert es nach wie vor Jahre, bis sich die Beschuldigten vor Gericht verantworten müssen. Der neuste Geschäftsbericht 2023 der Berner Justiz bestätigt die Zunahme neuer Fälle. Vom «Frutigländer» befragte Juristen liefern mögliche Erklärungen.
PETER SCHIBLI
Die positive Nachricht vorneweg: Die Berner Strafjustiz erledigte im vergangenen Jahr mehr Fälle als im Vorjahr: 2023 konnten 36 212 hängige Fälle abgeschrieben werden, im Vorjahr waren es noch 34 571. Da aber die Zahl neu eröffneter Verfahren im gleichen Zeitraum von 7868 auf 9403 anstieg, nahm auch die Zahl unerledigter Fälle zu. Die unerfreuliche Nachricht lautet deshalb: Gesetzesbrecher warten immer länger auf einen Strafbefehl oder auf eine Anklage. Die damit verbundene Unsicherheit belastet das Gewissen der Beschuldigten und das Leben der Opfer.
Bei den regionalen Staatsanwaltschaften des Kantons Bern waren Ende des vergangenen Jahres 5328 Ermittlungen hängig. Das sind im Durchschnitt 64 Fälle pro Staatsanwalt / Staatsanwältin. Die Zahl mehrjähriger, komplexer Verfahren stieg 2023 um 158 auf 1585 Fälle. Besonders bedenklich ist, dass die Staatsanwaltschaften 120 Fälle vor sich herschieben, die mehr als vier Jahre alt sind (2022 waren es 100 Fälle). Wegen der wachsenden Zahl an Enkeltrick-Betrügereien und Anklagen gegen «falsche Polizisten» stiegen vor allem die Wirtschaftsdelikte überproportional an, genau wie Delikte aus dem Bereich Cyber-Kriminalität und Internetbetrug.
Bei der Staatsanwaltschaft Oberland stieg die Zahl der eingegangenen Untersuchungen laut Geschäftsbericht 2023 stark an, was zu einer massiven Zunahme der durchschnittlichen Belastung der in Thun tätigen Staatsanwälte / Staatsanwältinnen um 38 Prozent führte. Angestiegen ist auch die Zahl mehrjähriger Untersuchungen, und zwar von 132 auf 181. Da sich die Situation im vierten Quartal 2023 nicht entscheidend verbessert hat, wurde Anfang Dezember 2023, analog zur Region Berner Jura-Seeland und Emmental-Oberaargau, auch die Staatsanwaltschaft Oberland vorübergehend personell aufgestockt.
Alles wird komplexer
Die Gründe für die ungebrochene Entwicklung sind vielfältig. So ist erstens die Zahl der Anzeigen und der Einsprachen gegen Strafbefehle gewachsen. Um diese zu bearbeiten, fehlen zusätzliche Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Andreas Jenzer, pensionierter Berner Staatsanwalt, sieht einen weiteren Grund im laufenden Ausbau der Verfahrensrechte der Beteiligten. Zudem werde die Terminfindung zwischen Anwälten und Justizbehörden für Einvernahmen oder Hauptverhandlung immer komplexer, da bei allen beteiligten Berufen die Arbeitslast ständig steige.
Revision der Strafprozessordnung überfällig
Als Beispiel einer «unnötigen Verzögerung» nennt Jenzer die prozessuale Regel, dass unentschuldigt abwesende Beschuldigte vom Gericht ein zweites Mal vorgeladen werden müssen, bevor ein Urteil (notfalls in Abwesenheit) gesprochen werden kann. Der Jurist nennt diese Bestimmung «unsäglich». Leider sei die Bereitschaft der Politik, auf eine erneute Revision der Strafprozessordnung hinzuarbeiten, nicht besonders gross. Jenzer weist zudem darauf hin, dass bereits vor Inkrafttreten der neuen Strafprozessordnung erfahrene Untersuchungsrichter und Staatsanwälte an die Adresse des Gesetzgebers zu bedenken gaben: Einzelne geplante Prozessregeln, welche die Beschuldigten begünstigen, würden zu Verfahrensverzögerungen führen.
Auch der pensionierte Berner Anwalt Heinz Dornauer sieht einen Grund für die Überlastung der Justiz im Ausbau der Parteirechte. Beschuldigte seien immer weniger bereit, eine Anklage oder ein Urteil einfach anzunehmen. Schliesslich gebe es immer mehr Gesetze mit Strafbestimmungen, die von den Parteien angewendet und ausgenützt würden. Als Beispiel aus dem Zivilrecht nennt er das revidierte Unterhaltsrecht, das der Verrechtlichung monetärer Ansprüche weiter Vorschub leistet.
Prominente Fälle aus dem Frutigland
Komplexe, mehrjährige Ermittlungen waren der Grund für die lange Verfahrensdauer im Fall des inzwischen freigesprochenen Adelbodner Pistenchefs, des Brandstifters und Mörders von Frutigen und des Kientaler Sexualstraftäters, der junge Männer in den Hexenkessel stiess. Seine Beschwerde gegen die erstinstanzliche Verurteilung ist vor dem Berner Obergericht noch hängig.
Ein landesweit bekanntes Beispiel für die Strapazierung der Verfahrensrechte durch Beschuldigte und sogar Verurteilte ist der Berner Jurist Franz Zölch, der nach mehrjährigen Verhandlungen vor Obergericht und Bundesgericht sowie trotz rechtskräftigen Urteils seine Freiheitsstrafe wegen mehrfachen Betrugs nach wie vor nicht angetreten hat. Zölch beruft sich auf seinen schlechten Gesundheitszustand und will à tout prix nicht ins Gefängnis, obwohl Vollzugshäftlingen auch in einer Strafanstalt eine adäquate gesundheitliche Betreuung garantiert wird.
Mehr Stellen gefordert
Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern sieht das Problem für die notorische Überlastung der Strafjustiz primär in der hohen Zahl nicht bewilligter Stellen. Im Tätigkeitsbericht 2023 schreibt die Behörde: Der aktuelle Personalbestand der kantonalen Staatsanwaltschaften werde dem Auftrag nicht mehr gerecht. Allein mit dem laufenden Abbau des Fallüberhangs könne das Problem auf Dauer nicht gelöst werden. Es bestehe dringender Handlungsbedarf.
Im Tätigkeitsbericht 2023 steht weiter: «Wie die vorstehenden Ausführungen und Kennzahlen zeigen, wachsen das Fallvolumen und die Überjährigkeit wieder neu an. Dies ist dem bereits 2014 erkannten Umstand geschuldet, dass sich der Missstand infolge nicht auftragsadäquater Dotationen wiederholt und nur durch den geplanten Stellenantrag nachhaltig vermeiden lässt. Es ist evident, dass periodisches Flickwerk keine dauerhafte, einer umsichtigen Betriebsführung entsprechende Lösung sein kann.» Die Generalstaatsanwaltschaft könne es nicht verantworten, untätig zu bleiben, und ihrer Belegschaft wieder Fallvolumen von über 100 hängigen Fällen pro Verfahrensleitung zuzumuten und so der Beeinträchtigung der Qualität der Verfahrensführung und der Gesundheit der Mitarbeitenden Vorschub zu leisten.