Kolumne – LEBENSGESCHICHTEN
25.07.2025 Kolumne«Sag mir die Wahrheit!» Das bekamen wir Kinder immer zu hören, wenn irgendwer was angestellt hatte. Ich gebe zu, wir waren keine einfache, pflegeleichte Schulklasse, und wir trieben gerne harmlosen Schabernack. Wir waren so voller Leben und voller Übermut.
In etwa ...
«Sag mir die Wahrheit!» Das bekamen wir Kinder immer zu hören, wenn irgendwer was angestellt hatte. Ich gebe zu, wir waren keine einfache, pflegeleichte Schulklasse, und wir trieben gerne harmlosen Schabernack. Wir waren so voller Leben und voller Übermut.
In etwa der Hälfte des 9. Schuljahres ist irgendwem der Übermut in die Quere gekommen und er hat es ein bisschen zu weit getrieben. Ich persönlich hielt mich aus dieser Sache raus, denn ich weigerte mich Dinge zu tun, die jemandem echten Schaden zufügten. Trotzdem musste ich beim Lehrer antraben und Red und Antwort stehen. «Sag mir die Wahrheit!» Meine Antwort – eine Gegenfrage – lautete: «Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen oder das, was Sie hören wollen?» Das war die falsche Antwort, und so musste ich mir einen Vortrag anhören über meinen mangelnden Fleiss, über mein nichtsnutziges Verhalten, dass ich in der Gosse landen würde und wo weiter und so fort …
Von diesem Moment an wurde ich geschnitten und konnte mich endlich interessanten Dingen widmen, weil ich die Wahrheit gesagt hatte.
Diese Biografie stammt aus der Feder eines bekannten deutschen Wissenschaftlers, die ich in meinen Worten nacherzählt habe.
«Sag mir die Wahrheit!» Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn ich kann immer nur das erzählen, was ich für wahr halte. Durch alles, was mir im Laufe des Lebens – durch lernen und Erfahrung – bewusst geworden ist, vertieft sich meine Wahrnehmung dessen, was ich als wahr empfinde. Je höher das Bewusstsein einer Gruppe von Menschen ist, desto mehr fügen sich persönliche Wahrheiten zu einer «grösseren» erweiterten Wahrheit zusammen. Aber diese Wahrheit kann sich immer nur erweitern, bleibt Teilwahrheit und ist niemals die ungeteilte – absolute – Wahrheit.
«Von einer Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr.» Wahrheit und Lüge sind untrennbar miteinander verbunden, wie die beiden Seiten einer Medaille. Solange ich immer noch durch Lernen mein Bewusstsein erweitern kann, wird die Lüge mein Leben – Denken, Fühlen und Handeln – mitbestimmen. Lüge entsteht zunächst einmal durch Unwissenheit oder falsch verstandenes Wissen.
Mit Sicherheit kann ich ehrlich nach bestem Wissen und Gewissen gesellschaftliche Regeln einhalten und sagen, was ich für meine Wahrheit halte, aber leider ist es immer nur meine Wahrheit und nicht DIE Wahrheit.
In der Welt gelte ich als Lügner, wenn ich absichtlich – zum eigenen Vorteil – die Wahrheit verdrehe. In diesem Fall wird das ganze Leben zur Lüge und findet immer mehr «hinter verschlossenen Türen» statt, denn die Lüge wirkt immer im Verborgenen. Eine erkannte Lüge wird zur Wahrheit, weil sie als unwahr erkannt worden ist.
Besonders verletzend kann die Lüge werden, wenn aus «Höflichkeit» die Unwahrheit gesagt oder auch nicht gesagt wird. Schliesslich kann die Wahrheit unangenehm und niederschmetternd sein. Leider ist solche Rücksichtnahme verletzender als der offene, ungeschminkte Umgang mit der Wahrheit.
In einer Diktatur werden ganze Völker zu Lügnern und die Wahrheit lebt im Verborgenen. Notsituationen bringen den Menschen zum Lügen, denn es geht hier ums Überleben.
Die Lüge hat viele Gesichter. Sie ist immer ein Schauspiel. Jeder von uns ist ein Schauspieler und spielt in jedem Augenblick seine Rolle perfekt; aber Schauspieler sind wandlungsfähig und spielen ihre Rolle immer wahrhaftig, egal ob sie lügen oder die Wahrheit leben.
BERNHARD NEUENSCHWANDER
REDAKTION@FRUTIGLAENDER.CH